Leonard Bernstein: Mass
Berlin, Philharmonie
Gegen Leonard Bernsteins „Messe“ sind seit der szenischen Uraufführung zur Eröffnung des John-F.-Kennedy-Centers for the Perfoming Arts in Washington Anfang der siebziger Jahre immer wieder heftige Einwände und Vorbehalte geltend gemacht worden: vom Eklektizismus der musikalischen Stilmittel über die Beliebigkeit der Textmontage bis zum blasphemischen Umgang mit der römischen Messliturgie. Alle diese Einwände, so begründet sie im einzelnen sein mögen, fallen in sich zusammen, wenn dieses große Werk sakraler Musik mit einer solchen Perfektion und ansteckendem Enthusiasmus aller Mitwirkenden dargeboten wird wie am letzten Wochenende in der Berliner Philharmonie. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin präsentierte sich in Bestform, die Chöre wie die Solisten aus Berlin und Kalifornien harmonierten bestens, der für den erkrankten Startenor Jerry Hadley eingesprungene John Cashmore sang die zentrale Partie des Zelebranten, als wäre es die Rolle seines Lebens, und Kent Nagano war der souveräne Dirigent einer turbulenten Partitur.

Der Abend ließ ahnen, dass weniger die ästhetischen Einwände als vielmehr die außergewöhnlichen Schwierigkeiten der Partitur der Grund dafür sein mögen, dass dieses Werk bis heute den Sprung ins Repertoire nicht geschafft hat. Kent Nagano hat nachgewiesen, dass es sich im Konzertsaal ebenso gut behaupten kann wie auf der Bühne - am liebsten demnächst in der Bochumer Jahrhunderthalle.

Stefan Heucke: 1. Kammersinfonie op. 44 für Sprecher und sieben Instrumente auf den Text "Saisonbeginn" von Elisabeth Langgässer
Bochum, Christuskirche
Stefan Heucke gliedert die berühmte Erzählung von Elisabeth Langgässer, in der ein deutscher Kurort am Ortseingang mit einem Hinweisschild darauf aufmerksam macht, dass Juden in dieser Gemeinde unerwünscht seien, in sieben Abschnitte, die von einem Sprecher in einer von Sequenz zu Sequenz zunehmenden Geschwindigkeit vorgetragen werden, von einem Kammerorchester begleitet, das zwischen den Abschnitten des Textes rein instrumentale Meditationen vorträgt, deren Tempi von Mal zu Mal verlangsamt werden, während die Geschichte ihren ebenso banalen wie deprimierenden Ende entgegenstürzt, stockt der Musik immer mehr der Atem.
Dabei fällt den sieben Instrumenten (Flöte, Englischhorn, Bassklarinette, Violine, Viola, Violoncello und Klavier) jeweils die dominierende Stimme der einzelnen Sätze zu, denen wiederum vom Komponisten die in der Partitur gekennzeichneten sieben letzten Worte Jesu am Kreuz als thematisches Material zugrunde gelegt werden. Aus der Verbindung von Text und Musik und dem Kontrast zunehmender und abnehmender Tempi sowie von menschlicher Stimme und Instrumenten ist ein überzeugendes und außergewöhnlich einprägsames Werk entstanden, das sich dem Zuhörer schon beim ersten Mal erschließt. Text und Musik stehen für sich und bilden eine Einheit, die auch durch die Gegenüberstellung der Leidensgeschichte Christi und der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes hergestellt wird.

Haendel, Acis und Galatea
Berlin, Staatsoper Unter den Linden
An dieser Produktion stimmt alles: das selten gespielte Stück, die überzeugende Inszenierung, das originelle Bühnenbild, die glänzenden Sänger, das präzise Orchester.
Das kleine Ensemble um die Regisseurin Jenny Erpenbeck und die Akademie für Alte Musik Berlin unter Leitung von Marcus Creed führen vor, was Hauptstadt-Theater auch ohne die großen Stars leisten kann. Neben der selbstverständlichen Pflege des Repertoires und der kontinuierlichen Förderung zeitgenössischer Autoren und Komponisten sind die vergessenen Meisterwerke wiederzuentdecken. G. F. Händels "Acis und Galatea" gehört offensichtlich dazu. Das etwas seichte Libretto auf der Basis eines mythologischen Stoffs aus Ovids "Metamorphosen" ist von der modernen Wirklichkeit weit entfernt und erklärt hinreichend, warum das Stück aus dem Spielplan verschwunden ist. Die Berliner Inszenierung weist nach, warum es wieder einen festen Platz im Repertoire verdient. Die halbszenische Aufführung präsentiert die hoffnungslos wirklichkeitsfremde Story der vom eifersüchtigen Polyphem bedrohten Liebe eines Schäfers zu einer Nymphe phantasievoll und witzig, aber nie albern, benötigt dafür keine Kostüme und wenige Requisiten, ein sparsames Bühnenbild und eine geschickte Beleuchtung, die das barocke Ambiente der Staatsoper wirkungsvoll einbezieht. Dies trägt zur Konzentration auf die kaum bekannte Musik eines berühmten Komponisten bei, der auch als Gelegenheitsarbeiten Meisterwerke ablieferte. Und so erhält die Staatsoper mit vergleichsweise geringem Aufwand ein beachtliches Kleinod für ihren Spielplan.

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