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Rede anlässlich der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises für öffentliche Rede
am 4. Dezember 2010 in Heidelberg

Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Eitel,
Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Professor Landfried,
verehrter, lieber Herr Eppler,
lieber Bernhard Vogel,
liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus Parlamenten und Regierungen,
meine Damen und Herren,

bevor ich die unvermeidliche Frage an mich heranlasse, ob der Dolf-Sternberger-Preis für öffentliche Rede schon gar im Glanze der bisherigen Preisträger von Willy-Brandt über Wolfgang Schäuble und Helmut Schmidt bis Václav Havel nicht auch eine Last ist, mindestens eine im Wortsinn schöne Bescherung, ist er eine Lust, eine Freude, jedenfalls eine seltene Auszeichnung, für die ich mich herzlich bedanke bei der Gesellschaft, beim Vorstand, bei der Jury, ganz besonders beim Laudator, Erhard Eppler, der erstaunlicher Weise in der Liste der Preisträger fehlt, obwohl er in seinem öffentlichen Wirken mit und ohne prominente Ämter über Jahrzehnte den Ansprüchen genügt, die Dolf Sternberger für politische Reden formuliert hat. „Es ist die vorherrschende Meinung,“ schreibt Dolf Sternberger in seiner Schrift „Der Staatsmann als Rhetor und Literat“ (1966) „Es ist die vorherrschende Meinung,… dass Politik und Sprache, Regierungskunst und Redekunst, dass das Handeln und das Sprechen zweierlei Dinge seien, wesenhaft unterschieden, beinahe feindlich einander ausschließend und abstoßend. Kaum je kommt einer auf die Idee, dass der Politiker ein Schriftsteller und der Schriftsteller ein Politiker sein könne. Und doch ist genau das der Kern der Sache. Es ist ein Maßstab nicht der literarischen, sondern gerade der politischen Kultur eines Landes, ob der Politiker von diesem Triebe und Ehrgeiz, von dieser Nötigung erfüllt ist, eine originale und treffende Sprache zu führen, ob er auf literarischen, auf rhetorischen Rang bedacht ist. Das Zoon politikon und das Zoon logon echon sind ein und dasselbe Wesen. Die beiden aristotelischen Bestimmungen des Menschen gehören zusammen: Der Mensch ist ein staatliches, ein bürgerliches Wesen, und der Mensch ist ein Wesen, das Sprache hat.“

Ich erlaube mir in einem Anflug von Leichtsinn gleich an dieser Stelle eine erste differenzierende Bemerkung. Der Mensch ist jedenfalls nach meinem Verständnis kein staatliches Wesen, schon gar keine staatliche Schöpfung. Seine Fähigkeit, Bedürfnisse durch Sprache zu artikulieren, richtet sich freilich vornehmlich gegen den Staat. Diese Ansprüche gegenüber dem Staat, übrigens die materiellen wie die immateriellen Ansprüche, sind im Zuge ihrer Verwirklichung nicht kleiner, sondern größer, jedenfalls anders geworden. Der Sozialstaat zum Beispiel wird nicht kleiner, weil das Sozialprodukt immer größer wird, im Gegenteil: das höchste Bruttoinlandsprodukt aller Zeiten ist zugleich mit den höchsten Sozialleistungen aller Zeiten verbunden – und zugleich mit der öffentlichen Kritik, nichts werde in diesem Land systematischer gekürzt als die Rechtsansprüche auf Sozialleistungen.

Veränderte Ansprüche erleben wir nicht erst seit einigen Wochen, aber seit einigen Wochen auffälliger als vorher auch mit Blick auf Beteiligung, schon gar auf politische Beteiligung an für wichtig gehaltenen Entscheidungsprozessen.

Stuttgart 21 ist ein großes Thema, mit dem sich mühelos ein solche Festveranstaltung verderben ließe, zu dem ich auch deshalb nur einige wenige Anmerkungen machen will, zu denen ich mich allerdings beinahe verpflichtet fühle, weil man es nicht ganz zu Unrecht für feige halten könnte, möglichst viel Einleuchtendes vorzutragen und sorgfältig all das zu vermeiden, was den Streit lohnt. Ich will auch deswegen, wenn auch nur wenige Sätze zu diesem Thema sagen, weil ich glaube, dass die Bedeutung der Auseinandersetzung über das Projekt und das dafür jetzt vorläufig abgeschlossene Verfahren erst mit einigem zeitlichen Abstand wird seriös beurteilt werden können. Insofern wundere ich mich, nein ich wundere mich nicht: ich stelle einmal mehr eine Neigung sowohl bei prominenten Vertretern der Politik wie der Medien fest, diesen Vorgang voreilig mit Modellcharakter auszustatten, zu einem Zeitpunkt, zu dem wir nicht einmal wissen, ob er überhaupt irgendetwas verändert, geschweige denn was: Mindestens vermutlich wieder Erwartungen, Ansprüche, wie diffus sie auch immer sein mögen.

Vor einigen Wochen war in einer der zahlreichen Berichte zu diesem Projekt und seiner damals bevorstehenden baulichen Umsetzung zu lesen, ich zitiere aus der Frankfurter Rundschau: „In Stuttgart wird ein Exempel statuiert. Die Regierung will demonstrieren, das sie stärker ist als das Volk.“ Der ergänzende Satz, der hier nicht steht; und das Volk will demonstrieren, dass es stärker ist als die Regierung, wäre auch nicht völlig falsch gewesen.

Nun sind jedenfalls nach meiner Überzeugung auch und gerade Großprojekte, wie der Bau von Bahnhöfen, von Flughäfen, von Kraftwerken – so wichtig sie im einzelnen natürlich sein mögen – kein geeigneter Anlass für Kraftproben, weder für die Regierung noch für das Volk. Ganz am Ende ist im Übrigen das Volk immer stärker als jede beliebige Regierung, wie wir durch jüngere Erfahrungen der deutschen Geschichte mit besonderem Selbstbewusstsein festhalten können. Aber auch das Volk kann kein Interesse an einer Kraftprobe mit dem Rechtstaat haben, von dessen verlässlicher Ordnung die Wahrung seiner Freiheitsrechte abhängt. Und auf genau das Spannungsverhältnis, das in diesem Zusammenhang gerne übersehen wird, hat Erhard Eppler in einem denkwürdigen Interview gleich zu Beginn der Auseinandersetzung um dieses Projekt aufmerksam gemacht. „Hier beißen sich“ – sagt er – „Hier beißen sich Rechtstaats- und Demokratieprinzip. Das ist ein ganz gefährlicher Vorgang.“ Ja, das ist in der Tat ein Vorgang, dessen explosive Wirkung schwerlich zu überschätzen wäre. Zumal sich ja leider nicht übersehen lässt, dass es jedenfalls die Versuchung gibt, in einem solchen Spannungsverhältnis dem Demokratieprinzip Vorrang vor dem Rechtstaatsprinzip einzuräumen. Würde man dies aber durchgehen lassen, könnte das Demokratieprinzip auf dem Wege vom Plebisziten notfalls auch Grundrechte aushebeln, die eben nicht vom Demokratieprinzip gesichert werden, sondern vom Rechtstaat.

Jeder, der schon gar Interesse an Minderheitenrechten hat, wird eine Vorrangentscheidung des Demokratieprinzips gegenüber dem Rechtstaat nicht für eine Errungenschaft, sondern für ein Verhängnis halten müssen. Was im Übrigen natürlich nahezu alle praktischen Fragen, die sich im Umgang mit diesen und anderen Projekten verbindet, nicht beantwortet, auch nicht die Frage, ob den zweifellos wachsenden Erwartungen an politischer Beteiligung durch großzügigere Öffnung zugunsten plebiszitärer Verfahren entgegenzukommen sei, was Erhard Eppler entschieden bejaht und ich auch aus den genannten Gründen sehr viel zögerlicher betrachte.

Richard Schröder, der seine Erfahrung sowohl mit demokratischen Ansprüchen wie mit rechtstaatlichen Defiziten gemacht hat, hat seinerseits vor einigen Wochen Anlass gesehen, auf die Probleme aufmerksam zu machen, die sich durch eine sicher gut gemeinte, aber doch voreilige und treuherzige Beschwörung von Volkssouveränität als dem allen anderen voranzustellenden politischen Strukturprinzip einer modernen Demokratie ergeben können. „Wer uns“ – schreibt Richard Schröder – „Wer uns aber eine bessere Demokratie vorbei an Grundrechten und Gewaltenteilung verspricht, dem müssen wir die bittere Erfahrung entgegenhalten, Antiparlamentarismus im Namen des Volkes hat in Deutschland schon zweimal in die Diktatur geführt. Beide Diktaturen liebten das Wort „Volk“ ganz besonders: Volkspolizei und Volksarmee und Volkskammer und Volksgerichtshof und Volkswille und Volkszorn. Alles direkt und spontan und ganz einfach und ohne diesen Formelkram.“

Meine Damen und Herren, sowohl Erhard Eppler wie Bernhard Vogel haben sich in einer beschämend liebenswürdigen Weise der Rolle des Parlamentspräsidenten im Allgemeinen und der Wahrnehmung dieses Amtes durch den gegenwärtigen Amtsinhaber angenommen. Ich will zur Einordnung des Vorgetragenen doch darauf hinweisen: der Bundestagspräsident hat aufgrund unserer Verfassung wie der Geschäftsordnung in unserem politischen System kaum etwas zu sagen, wenn er nicht tatsächlich etwas zu sagen hat. Das ist hart aber fair, jedenfalls kann man damit umgehen. Die vom Parlamentspräsidenten erwartete Überparteilichkeit der Amtsführung wird immerhin durch die Polizeigewalt überhöht, die er als Hausherr und zugleich Polizeichef einer eigenen Bundestagspolizei ausübt. Mit diesem gewaltigen militärischen Apparat kann man Bandenkriege nur begrenzt bekämpfen, schon gar nicht Bandenkriege innerhalb parlamentarischer Gruppierungen. Der politische Einfluss des Bundestagspräsidenten ist umso höher, je unauffälliger er sich in den Kulissen bewegt und anderen den Auftritt auf der Vorderbühne überlässt. Zur Tragik des Amtes gehört, das auch gelungene Reden nicht unbedingt etwas bewirken, misslungene aber fast immer. Sie beschädigen Ansehen und Einfluss eines Amtes, das ohnehin auf nichts anderem, jedenfalls auf nichts anderem mehr als der Kraft der Reden beruht.

Die immer wieder vorgetragenen Befürchtungen über den Verfall der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der politischen Rede im Besonderen verdienen sicher eine sorgfältigere Untersuchung als dies im Rahmen einer Danksagung möglich ist. Immerhin erlaube ich mir die Frage, ob der vermeintliche Verfall parlamentarischer Redekultur wirklich ausgeprägter und besorgniserregender ist als die Berichterstattung, die sich damit mehr oder weniger regelmäßig auseinandersetzt. Jedenfalls spricht manches für die Vermutung, dass der unwiderstehliche Trend zur Entertainisierung der Berichterstattung genau den Typus von Politikern erzeugt und erzieht, der anschließend als abschreckendes Beispiel lebhaft beklagt wird.

Auf diese Fehlentwicklung hat Helmut Schmidt in seiner Dankrede bei der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises schon vor acht Jahren hingewiesen, als er von der Fragwürdigkeit der Fernsehmassendemokratie gesprochen hat, die ganz was anderes sei, als die Demokratie einer lesenden Gesellschaft. „Eine Demokratie, für die einprägsame lebende Bilder, die unmittelbar ins Bewusstsein von Millionen dringen, wichtiger geworden sind als etwa sorgfältig formulierte Sprache. Das Fernsehen erzieht das Publikum zur Oberflächlichkeit und ebenso den Politiker.“

Auf eine andere unter den Bedingungen der Mediendemokratie schwer vermeidbare Versuchung hat Václav Havel in seiner Dankadresse bei der letzten Preisverleihung hingewiesen. „Wenn wir zum Thema Sprache und Politik sprechen sollen, scheint es mir, dass wir verpflichtet sind, insbesondere der Banalisierung der politischen Sprache Beachtung zu schenken, weil diese ein Zeichen für banales Denken und banale Taten ist.“ Das hätte fast Sternberger im Wortlaut sein können. „Es gibt Wendungen, Floskeln und Klischees, die wie Viren in der Luft schweben.“

Meine Damen und Herren: „Erst mit der Sprache geht die Welt auf.“ Diese kluge Bemerkung von Hans-Georg Gadamer verdeutlicht in einem einzigen prägnanten Satz die überragende Bedeutung, die die Sprache für unser Verhältnis zur Welt hat, zur eigenen Herkunft, zur jeweiligen Umwelt, zu der Welt, in der wir leben, die wir ohne das Mittel der Sprache kaum begreifen und noch weniger erklären können. Insofern kann man bei der Beschreibung des Stellenwertes von Sprache kaum übertreiben. Sie ist unter nahezu jedem Gesichtspunkt ein Schlüssel, dessen Vorhandensein oder Fehlen ganz wesentlich darüber entscheidet, ob bestimmte individuelle, gesellschaftliche, natürlich auch politische Entwicklungen überhaupt möglich sind und schon gar in welcher Weise sie stattfinden. Die Artikulation von Interessen erfolgt durch Sprache. Die Werbung für und die Propaganda gegen Anliegen und Bedürfnisse wird sprachlich, daneben zunehmend durch Bilder vermittelt.

Die öffentliche Auseinandersetzung, insbesondere aber nicht nur in den Medien, erfolgt durch Sprache. Ebenso der parlamentarische Streit, Gesetze formulieren ihre Ansprüche in Sprache, und die Richter formulieren ihre Urteile wiederum in Sprache.

Politik, meine Damen und Herren, ist für Sprache nicht zuständig, aber mitverantwortlich. Und ich hoffe sehr, dass spätestens nach der Leidensgeschichte der Rechtschreibreform die Einsicht gewachsen ist, dass man Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten besser nicht verwechseln sollte. Am Ende hatte die Politik eine Reihe von Problemen zu lösen, die sie gar nicht gehabt hätte, wenn sie nicht unnötigen Gestaltungsehrgeiz in einer Frage entwickelt hätte, für die sie nicht zuständig ist.

Es gibt eben auch und schwer überhörbar einen politischen Beitrag zur Sprachentwicklung eines Landes. Mein Eindruck ist, dass die politische Sprachschöpfung ebenso häufig von dem verzweifelten Hang zur Originalität befallen ist wie von der Neigung zur Schludrigkeit, zur Oberflächlichkeit. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen in ganz alten, leider auch in ganz neuen Texten. Ich ahne, wie die ohnehin in der deutschen Bevölkerung ausgeprägte Vorfreude auf die Gesundheitsreform durch die Ankündigung eines „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ befördert wird. Und ich habe auch eine durch meine eigenen Kinder gestützte Vermutung, dass jedenfalls die betroffenen Schülerinnen und Schüler die im ganzen bescheidenen Befunde der Pisa-Studie leichter wegstecken, wenn ihnen attestiert wird, dass sie immer häufiger die gesetzten „Curricularnormwerte“ nicht erreichen, statt schlicht und ergreifend zum Ausdruck zu bringen, dass sie den Mindestansprüchen nicht genügen, die in der Welt von heute unverzichtbar sind.

Dieses Thema Sprache, Sprache und Politik, ist unter vielerlei Gesichtspunkten wichtig und interessant und verdient nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung des Gesetzgebers mindestens für die Verständlichkeit dessen, was er da tut, besondere Aufmerksamkeit. Manchmal könnte man den Eindruck haben, als hätten deutsche Staatsbürger, sobald sie zu Gesetzgebern mutieren, eine besondere Begabung, Einfaches kompliziert auszudrücken und Verständliches in einer Weise, dass es sich selbst karikiert. Aus der noch relativ neuen und aus anderen Gründen berühmt-berüchtigten Hartz-Gesetzgebung ist etwa die Klarstellung zu gewinnen: „Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig.“ Aber es wird auch nicht besser, wenn der Eifer zur Verständlichkeit die Feder führt. Einer der Klassiker ist die Klarstellung in einer Verordnung der Bundeswehrverwaltung, dass „der Tod aus versorgungsrechtlicher Sicht die stärkste Form der Dienstunfähigkeit darstellt.“ Dieser Formulierung kann man den Vorwurf der Unverständlichkeit nicht machen, sie ist nachvollziehbar und volkstümlich, trägt aber wiederum kaum zum Glanz der Sprachfähigkeit deutscher Politik bei.

Unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung meiner Vorsicht und Warnung vor voreiligen gesetzlichen Regelungen bin ich aus einer Reihe von im einzelnen hier natürlich nicht darzustellenden Gründen der Meinung, dass Deutsch als Landessprache ins Grundgesetz gehört. Und auch wenn ich mit Professor Gauger von der Dolf-Sternberger-Gesellschaft die Beurteilung der Lage im Allgemeinen nahezu komplett teile, komme ich in der Schlussfolgerung zu einer anderen Bewertung.

Natürlich, wenn mich irgendjemand fragt, ob ich es für unbedingt nötig halte, müsste meine Antwort lauten: Nein, unbedingt nötig ist es nicht. Allerdings im Vergleich zu manchem, was der deutsche Verfassungsgesetzgeber in den letzten 50 Jahren an Ergänzungen und Einfügungen unserer Verfassung für nötig gehalten hat, glaube ich den Nachweis führen zu können, dass man schwerlich unter 55 Grundgesetzänderungen fünf andere Änderungen des Grundgesetzes finden wird, die es an Ernsthaftigkeit und Rang mit diesem Vorschlag aufnehmen können. Das Grundgesetz gibt sich sehr restriktiv, sehr zurückhaltend mit allem, was die geistigen Wurzeln dieser Verfassung betrifft, es ist dagegen sehr großzügig zu seinen Trieben und Blüten, die gelegentlich zu einem Wildwuchs missraten sind.
Am Ende dieses Jahres ist das Grundgesetz länger gültig ist als die Verfassung des Deutschen Reiches und die Weimarer Verfassung zusammengenommen. Dieses Grundgesetz gilt inzwischen, jedenfalls nach meinem Eindruck, auch und gerade bei ausländischen Beobachtern und Experten als eine der großen Verfassungen der Welt. Davon konnte man auch nicht unbedingt ausgehen, als die ersten Beratungen zu dieser provisorischen Verfassung im Parlamentarischen Rat stattgefunden haben. Carlo Schmid hat damals im Parlamentarischen Rat von einem „Bauriss für ein Notgebäude“ gesprochen. Daraus ist jedenfalls ein erstaunlich stabiles Gebäude geworden.
Seit 1949 ist das damals verkündete Grundgesetz 55 oder 56-mal ergänzt oder geändert worden. Das ist bei über 60 Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr, aber es ist immerhin doppelt so häufig wie die amerikanische Verfassung in mehr als 200 Jahren. Für jede einzelne dieser Änderungen oder Ergänzungen hat es Gründe gegeben, mal mehr und mal weniger zwingende. Aber, dass dem Verfassungsgesetzgeber jede einzelne dieser Änderungen gleich gut gelungen sei, wird man wohl nur schwer behaupten können.

Das Grundgesetz ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten jedenfalls deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten, hat es inzwischen nahezu den doppelten Umfang gegenüber dem Text von 1949. Ob es mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser, jedenfalls präziser geworden ist, diese Frage werden wir uns mindestens gefallen lassen müssen. In einer interessanten staatsrechtlichen Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht worden ist, findet sich jedenfalls der diskussionswürdige Satz: „Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.“ Ich erlaube mir, weil hier heute morgen einige ausgewiesene Experten zusammen sind, die sich mit diesem Thema immer wieder und aus unterschiedlicher Perspektive beschäftigt haben, auch den Hinweis, dass es natürlich kein Zufall ist, dass der Löwenanteil dieser Verfassungsänderungen in der vergleichsweise kurzen Zeit der beiden großen Koalitionen zustande gekommen ist. Das ist mehr als ein starkes Indiz für die Vermutung, dass verfassungsändernde Mehrheiten, wenn es sie denn gibt, sich bei schwierigen Gesetzgebungen besonders gern den scheinbar bequemen Weg über eine Verfassungsänderung suchen, ohne besonders sorgfältige Prüfung der Frage, ob die angestrebte, politisch für zweckmäßig gehaltene Regelung wirklich in eine Verfassung gehört. Das letzte geradezu sich selbst parodierende Beispiel ist die Ausschmückung der sogenannten Schuldenbremse, die nur um den Preis ins Grundgesetz gekommen ist, dass eine Handvoll Bundesländer die von ihnen in diesem Zusammenhang reklamierten Ausgleichszahlungen in Eurobeträgen und Jahreszahlen im Grundgesetz haben verankern lassen.

Im Übrigen sind mit dieser Problematik und dieser aus meiner Sicht ganz offenkundigen Fehlentwicklung keineswegs nur Fragen der Verfassungsästhetik berührt, sondern auch die hochpolitische Frage verbunden, welche Folgen es eigentlich hat, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten mit Verfassungsrang ausgestattet werden. Was bedeutet das eigentlich für die Spielräume künftiger Gesetzgeber wiederum demokratisch legitimierter Mehrheiten und damit für die Architektur unseres politischen Systems, für das wir uns gerne und zurecht wechselseitig beglückwünschen, weil uns in unserer Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen ist wie diese Verfassung.

Meine Damen und Herren, es ist natürlich nicht ganz zufällig, das ich in meiner Dankadresse gerade diesen Punkt mit einem besonderen Akzent versehen habe, weil ich gerade nach den jüngeren stattgefundenen Erfahrungen glaube Anlass zu haben darauf hinzuweisen, dass wir uns einen etwas sorgfältigeren Umgang nicht nur mit Gesetzgebung im Allgemeinen, sondern schon gar mit Verfassungsgesetzgebung wieder angewöhnen müssen. Das Grundgesetz ist keine Baustelle, sondern wenn überhaupt das Grundstück und das Fundament, auf dem sich der Bau von Staat und Gesellschaft ständig entwickelt durch Anbauten und Umbauten, durch Aufstockungen und Erneuerungen. Nicht jede Veränderung erweist sich als Verbesserung. Diese eher banale aber solide Einsicht reicht selbstverständlich nicht, Veränderungserwartungen auszuweichen oder sie gar blockieren zu wollen. Aber sie ist doch mindestens ein Grund zur Sorgfalt und erinnert an die klassische Empfehlung von Max Weber, neben der Leidenschaft auch Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen.

Meine Damen und Herren, für die Großzügigkeit, meine regelmäßigen Bemühungen um diese ebenso komplizierten wie zentralen Zusammenhänge mit einem Preis für öffentliche Rede auszustatten, möchte ich mich herzlich bedanken, nicht zuletzt für die Geduld, mit der Sie eine erneut unvollkommene Annäherung an diesen Sachverhalt heute Mittag bei vorgeschrittener Zeit ertragen haben.


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