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Gedenkveranstaltung der Stadt Rheda-Wiedenbrück an die Pogromnacht 1938
Rheda-Wiedenbrück, 12. November 2023

Am 12. November 1938, heute auf den Tag genau vor 85 Jahren, hat die nationalsozialistische deutsche Reichsregierung eine Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben erlassen. Zwei Tage nach dem entsetzlichen Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

Nach jahrelanger Ausgrenzung, Benachteiligung, Diskriminierung, Verleumdung, Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, war der Terror in der berüchtigten Reichspogromnacht, dem die Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben folgte – wie wir alle wissen die letzte noch verbliebene Stufe vor der Vernichtung auch des physischen Lebens von Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Mit dieser Verordnung vom 12. November wurde Jüdinnen und Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, die Führung von Handwerksbetrieben und die Übernahme leitender Funktionen in Unternehmen untersagt und die Entlassung von leitenden Angestellten in allen Betrieben und Unternehmen ohne Entschädigung ermöglicht.

Manche Historiker haben die Ereignisse vom 9. auf den 10. November als die Katastrophe vor der Katastrophe bezeichnet. Wenn überhaupt, müsste man von der großen Katastrophe vor der ultimativen Katastrophe sprechen. Damals wurden in einer Nacht mehr als 7.000 Geschäfte zerstört und geplündert, 1.400 Synagogen in Brand gesteckt und zerstört – die Hälfte aller in Deutschland und Österreich überhaupt bestehenden Synagogen zum damaligen Zeitpunkt. 30.000 Menschen wurden verschleppt. 1.300 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger kamen unmittelbar oder infolge der Ereignisse in dieser Nacht zu Tode, beinahe ausnahmslos deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

Es hat beinahe ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis in Deutschland die Erinnerung und das Gedenken an die Ereignisse möglich und üblich geworden ist – Veranstaltungen, wie sie heute hier, am vergangenen Freitag in Berlin und an vielen Orten und Plätzen in Deutschland stattgefunden haben, um sich, wie der Herr Bürgermeister das gerade gesagt hat, an die entsetzlichsten Zeiten der jüngeren deutschen Geschichte zu erinnern.

Es hat eine Zeit gebraucht, bis – wenn auch immer noch nicht allen, so doch den meisten – deutlich geworden ist, wie unverzichtbar die Erinnerung an Vergangenes ist. Auch die Vergangenheit ist Realität. Das, was einst einmal stattgefunden hat, ob Errungenschaften oder Verirrungen, ist dadurch, dass es vorbei ist, nicht aus der Welt. Das, was einst einmal war, hat Bedeutung für die Gegenwart und wirkt in die Zukunft hinein. Das gilt für einzelne Personen, die sich von ihrer eigenen Vergangenheit nicht absetzen können. Es gilt für ganze Gesellschaften, es gilt für Staaten und Nationen – und vermutlich gilt es für kein anderes Land der Welt mehr als für Deutschland.

Natürlich werden wir von unseren Nachbarn in Europa und weit darüber hinaus nicht nur, aber auch und ganz besonders im Lichte der Erfahrungen unserer Vergangenheit betrachtet und wahrgenommen.

Natürlich sind die ganzen zwölf Jahre eines vermeintlich tausendjährigen Reiches nicht nur ein Menetekel der deutschen Geschichte, sondern eine traumatische Erfahrung für viele unserer Nachbarn und heutigen Partner in der Welt gewesen und geblieben.

Seit den späten 80er und frühen 1990er Jahren finden Jahr für Jahr überall in Deutschland Erinnerungsveranstaltungen statt, um uns diese Zusammenhänge bewusst zu machen.

In diesem Jahr finden dieses Gedenken unter einer völlig anderen Voraussetzung statt als in allen vergangenen Jahrzehnten. Fast jedes Jahr durften wir uns einbilden, wir erinnern an ein Ereignis, das lange zurückliegt, das aber Gott sei Dank unsere aktuelle Gegenwart nicht mehr prägt. Seit dem 7. Oktober 2023 wissen wir, dass dies eine Einbildung gewesen ist, denn wir sind in diesen Wochen Zeitzeugen von drei Tragödien geworden, die gleichzeitig stattfinden: Die erneute Existenzbedrohung Israels, die humanitäre Katastrophe in den palästinensischen Gebieten und der Anstieg des Antisemitismus im Lichte dieser Ereignisse.

Ich weiß nicht, ob irgendjemand von Ihnen das für möglich gehalten hat. Ich jedenfalls nicht.

Der Antisemitismus, von dem wir gehofft hatten, dass er, wenn überhaupt, nur noch in mikroskopisch kleinen Größenordnungen in unserer Gesellschaft anzutreffen sei von Unbelehrbaren, wird auf Straßen und Plätzen in einer erschreckenden Größenordnung und Aggressivität deutlich. Er begegnet uns als eingewanderter Antisemitismus wie als einheimischer Antisemitismus. Es gibt nicht nur einen muslimischen Antisemitismus, es gibt auch einen christlichen Antisemitismus. Es gibt nicht nur rechten, sondern auch linken Antisemitismus. Es gibt nicht nur verdeckten, sondern auch offenen Antisemitismus. In welcher Variante er auch immer auftritt: Er ist intellektuell indiskutabel, menschlich unanständig und politisch intolerabel. Das gilt für jedes Land der Welt und für kein Land mehr als für Deutschland.

Ich bin jedem Einzelnen dankbar, der sich nicht nur in der Öffentlichkeit der Erinnerung stellt, sondern der, wie die Schülerinnen und Schüler ihres Gymnasiums, sich mit diesem Thema und seiner leider weiterhin aktuellen Bedeutung auch abseits davon intensiv auseinandersetzt. Wie dringlich diese Auseinandersetzung geblieben und wieder geworden ist, das zeigen nicht nur die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten, das zeigen auch viele aktuelle Studien, aus denen erschreckende Zahlen hervorgehen, wie viele in Deutschland Lebende das Existenzrecht Israels ablehnen und was für eine beachtliche Minderheit die Anwendung von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden für legitim hält.

Die Größe der Herausforderung, vor der wir stehen, ist gar nicht zu überschätzen. Natürlich muss dies, wenn es denn überhaupt Sinn machen soll, als eine gemeinsame Herausforderung für staatliche Institutionen wie für die Zivilgesellschaft begriffen werden.

Natürlich ist richtig, dass der fundamentale Unterschied zwischen den damaligen Ereignissen und der heutigen Situation darin besteht, dass der Pogrom gegen Jüdinnen und Juden damals staatlich organisiert waren. Der Antisemitismus war gewissermaßen die Staatsräson des nationalsozialistischen Deutschlands. Heute steht die politische Klasse in Deutschland, stehen alle Verfassungsorgane unmissverständlich hinter Israel und seinem Existenzrecht und an der Seite der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande.

Aber ob das für die Zivilgesellschaft in gleicherweise zutrifft, das ist eine der Fragen, die jeder und jede für sich beantworten muss und die wir weiter gemeinsam im Auge behalten müssen.

Nie wieder. Nie wieder ist jetzt. Jetzt oder nie.

Schalom.


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