zurück

Rede beim Stiftungsjubiläum "30 Jahre Deutsche Nationalstiftung"
Hamburg, 2. Oktober 2023

Die Leitfrage dieser Jubiläumsveranstaltung „Wie wichtig ist der Nationenbegriff heute?“ ist leider nicht ganz so einfach zu beantworten, wie sie sich anhört. Das Problem beginnt schon mit der Frage: Wie misst man eigentlich Wichtigkeit? Gibt es dafür einen verlässlichen Maßstab? Ich will es mal so versuchen: Wie wichtig sind Aktionen für das Funktionieren eines Staates oder einer Staatengemeinschaft? Was wiederum erkennbar nicht dasselbe ist. Wie wichtig sind Nationen für das Selbstverständnis einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft? Und wie wichtig sind sie für die Identität und Orientierung konkreter Menschen?

Es gab Zeiten in Deutschland, da reichte das fröhliche Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft als Nachweis der Weltoffenheit, der Toleranz und der Modernität völlig aus. Die Zeiten haben sich verändert und die Debatten auch. Die schwierige, verzögerte, teilweise auch schlicht verweigerte Debatte über Migration und Integration und den Zusammenhang des einen mit dem anderen war in Deutschland lange Zeit durch eine wechselseitige Realitätsverweigerung gekennzeichnet. Die einen bestanden gegen die Wirklichkeit auf dem Postulat, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die anderen wiesen zu Recht darauf hin, Deutschland sei längst ein Einwanderungsland und werde sicher eine multikulturelle Gesellschaft – und hielten diesen, im Übrigen natürlich richtigen Hinweis zu Unrecht schon für ein Konzept im Umgang mit den damit verbundenen Herausforderungen und Problemen.

Dass die Deutsche Nationalstiftung vor 16 Jahren ihren Nationalpreis der Herbert-Hoover-Realschule für die damals hoch umstrittene Entscheidung verliehen hat, Deutsch als verbindliches gemeinsames Verständigungsmittel innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu verwenden, ist ein Indiz für diese Wirklichkeitsverweigerung. Da das schon eine Weile her ist und viele das sicher nicht mehr in Erinnerung haben, lohnt es sich daran zu erinnern, dass diese einmütige Entscheidung der Schulkonferenz von Eltern, Lehrern und Schülern gemeinsam getragen wurde, zugleich bei deutschen wie bei türkischen Medien damals in einer bemerkenswerten Koalition den Vorwurf der „Zwangsgermanisierung“ nach sich gezogen hatte.

Die Debatte über nationale Identität, über kulturelle, auch und gerade religiöse Grundlagen und Ansprüche unserer Gesellschaft ist offensichtlich leichter zu verweigern als zu führen. Sie war jedenfalls in Deutschland viel zu lange gekennzeichnet durch das sorgfältige Vermeiden von Festlegungen, schon gar von Verbindlichkeiten. Die multikulturelle Gesellschaft, in der wir zweifellos längst leben, schließt Verbindlichkeiten keineswegs aus, sondern setzt sie geradezu voraus. Ohne Gemeinsamkeiten erträgt eine Gesellschaft keine Vielfalt. Jede Gesellschaft, auch und gerade jede moderne Gesellschaft, braucht ein Mindestmaß an gemeinsamen Überzeugungen, an gemeinsamen Werten, an allgemeinverbindlichen Regeln, ohne die sie ihren inneren Zusammenhalt verliert. Die Verweigerung dieser Einsicht war nie eine besondere Form der Demut, sondern eher eine subtile Variante nationalen Hochmuts. Als bräuchten ausgerechnet wir Deutsche das nicht, was für jede beliebige andere Gesellschaft ganz offenkundig unverzichtbar ist: Gemeinsamkeiten, Verbindlichkeiten – „Ligaturen“, wie es der große deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf vor vielen Jahren vornehm, aber mit erkennbar begrenzter Wirkung formuliert hat.

Seit den frühen 1990er Jahren, also just seit der Zeit, in der die Deutsche Nationalstiftung gegründet wurde, seit 30 Jahren also, seit dem Fall der Mauer, dem Zusammenwachsen Deutschlands und dem Zusammenwachsen Europas, ist immer wieder darüber spekuliert worden, ob sich nun ein Europa als Nation neuen Typs entwickeln werde. Ich glaube nicht, dass Europa unter den historischen Bedingungen, unter denen dieser Kontinent über Jahrhunderte gewachsen ist, rational und vor allem emotional eine Position gewonnen hat oder gewinnen könnte, um in einer vergleichbaren Weise wie die Nationen eine solche zentrale Identifikationsrolle einzunehmen. Europa ist nötig, gar kein Zweifel, wird aber nur begrenzt Identifikation stiften. Joschka Fischer, der alte 68er, aktive Straßenkämpfer damals gegen das demokratische System, später als Außenminister und Vizekanzler einer seiner prominentesten Repräsentanten, hat in einem seiner zahlreichen Bücher dazu festgehalten: „Die Nationen machen Europa aus – ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Unterschiede und ihre Gemeinsamkeiten. Und diese Nationen sind viel älter als die Nationalstaaten.“

Tatsächlich empfiehlt es sich, mindestens zur Kenntnis zu nehmen, dass auch und gerade in Zeiten der Globalisierung die Zahl der Nationalstaaten nicht sinkt, sondern steigt. Stand heute hat Europa mehr selbständige Staaten als die ganze Welt zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 hatte. Damals gab es ganze 36 Staaten beziehungsweise Nationen. Heute sind in den Vereinten Nationen 193 Staaten zusammengeschlossen. Der Abgesang auf das Nationale ist auch unter diesem Gesichtspunkt mindestens eine Spur zu voreilig. Ganz offenkundig hat das nicht nur etwas mit dem politischen Ehrgeiz von Potentaten mit und ohne demokratische Legitimation zu tun, sondern doch wohl auch mit einem vitalen Bedürfnis, das sich nicht alle gleich und gleich gerne öffentlich eingestehen. Helmut Schmidt, an den wir bei dieser Veranstaltung mit besonderem Respekt erinnern, hatte auch dazu eine klare, unmissverständliche Lagebeurteilung: „Der Nationalstaat wird nicht überwunden werden, jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert.“ Und begründet hat er das mit dem schlichten Hinweis: „Der wichtigste Ankergrund ist der Nationalstaat und das Nationalbewusstsein. Wenn ein Mensch gefragt wird: 'Was bist du?' Dann antwortet er nicht: 'Ich bin Europäer', sondern er antwortete: 'Ich bin Deutscher, Franzose oder Österreicher'.“

Es gibt ganz sicher so etwas wie nationale Identität. Es gibt auch sicher so etwas wie kulturelle Identität. Das eine wie das andere ist gewiss nicht ein Befund, der sich ein für alle Mal machen ließe, sondern eher – etwas despektierlich formuliert – eine Baustelle, an der ständig weitergearbeitet wird. Übrigens auch mit einer sich jeweils verändernden Belegschaft.

Es gehört ganz sicher zu den Errungenschaften der jüngeren deutschen Geschichte, dass der dröhnende Nationalismus hierzulande chancenlos geworden ist. Heute müsste man wohl eher sagen, jahrzehntelang chancenlos schien und einer sehr viel bescheideneren, manchmal geradezu demütigen Haltung gewichen ist. Die Kehrseite davon ist die Übertreibung, dass wir uns gar nicht mehr so richtig trauen, uns zum eigenen Land, zu seiner Geschichte und seinen Leistungen zu bekennen, was uns im Übrigen immer häufiger gerade auch von ausländischen Intellektuellen kritisch vorgehalten wird. „Offenbar ist Deutschland ein Land, zu dessen Leitkultur inzwischen das Misstrauen gegen sich selbst gehört.“ (Rüdiger Safranski) Für dieses Misstrauen mag es Gründe geben. Es reicht als Ersatz oder als Begründung weder für nationale Identität aus noch für ein offenkundig vorhandenes Identifikationsbedürfnis.

Wie viel Nation braucht ein Staat und wie viel Staat braucht eine Nation? Im 19. Jahrhundert wurde lange darum gerungen, der deutschen Kulturnation eine staatliche Hülle zu geben, die mit mancherlei Anläufen, Umwegen und Irrwegen schließlich durch Gründung eines deutschen Nationalstaates gefunden wurde. Nur zur Erinnerung: auf dem Weg über drei Kriege, die als sogenannte „Einigungskriege“ beschönigt wurden. Die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte wiederum war nach der mehr oder weniger unauffälligen Verabschiedung von der Hallstein-Doktrin und deren Versuch zur Aufrechterhaltung eines virtuellen Einheitsstaates für eine gemeinsame Nation geprägt von Willy Brandts Formel der „zwei Staaten einer Nation“.

Die Leitfrage dieser Jubiläumsveranstaltung setzt die Klärung der Frage voraus, welches Nationenverständnis denn überhaupt gemeint ist, wenn wir das Verhältnis von Staat und Nation zueinander beleuchten wollen. Die Nation im Verständnis des französischen Historikers und Philosophen Ernest Renan als ein tägliches Plebiszit der Menschen, die in einer Gesellschaft und in einer gegebenen staatlichen Ordnung miteinander leben wollen, oder das Ideal, das in der deutschen Geschichte über lange Zeit prägend war und mindestens in Restbeständen nach wie vor virulent ist, das einer ethnisch und kulturell möglichst homogenen Gemeinschaft. Dabei sind mit Blick auf Nationalstaatsgründungen Mehrvölkerstaaten eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Die Vereinigten Staaten, Kanada, die Sowjetunion, China, Indien, Australien, die ungarisch-österreichische Doppelmonarchie: Die Zahl der Beispiele ist ungleich größer als die verzweifelte Suche nach ethnisch homogenen Nationalstaaten.

Wie immer man die gesellschaftliche Entwicklung in Verbindung mit diesem Thema über die letzten Jahre und Jahrzehnte theoretisch zusammenfassen und buchstäblich auf den Begriff bringen mag, für Deutschland lässt sich zweifellos sagen, dass das Deutschland, in dem wir heute leben, längst nicht mehr nur das Land der Deutschen ist. Hier leben heute mehr als 21 Millionen Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte – mehr als die meisten Mitgliedsländer der EU an Einwohnern haben. Das sind rund 26 Prozent der Bevölkerung, also mehr als jeder Vierte, und ihr Anteil steigt insbesondere unter den Jüngeren kontinuierlich. Die gesellschaftliche Realität multikultureller Gesellschaften gibt der Frage nach der Identität und der Identifikation eine zusätzliche, eine neue Wendung. „Meine Heimat ist nicht Deutschland. Sie ist mehr als Deutschland“, schreibt Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und deutscher Staatsbürger iranischer Herkunft. „Meine Heimat ist Köln geworden. Meine Heimat ist das gesprochene Persisch und das geschriebene Deutsch“, und er fügt in der grandiosen Schrift „Wer ist wir?“, die ich nur jedem empfehlen kann, der sich mit diesem komplizierten Thema beschäftigt, den wunderbaren Satz hinzu: „Ich weigere mich, mich auf eine Identität reduzieren zu lassen, und sei es auch meine eigene.“

Man könnte der verzweifelten Suche und dem gelegentlichen Finden von Begrifflichkeiten für diese komplexe Wirklichkeit viele hochinteressante Facetten abgewinnen. So habe ich bei Jakob Augstein, einem des Rechtspopulismus unverdächtigen Publizisten und Verleger, schon im Jahr 2015 den erstaunlichen Satz gefunden: „Multikulturalität braucht Leitkultur. Und am Ende wird Deutschland beides haben.“ Man stelle sich vor, das hätte wieder einmal jemand anderes gesagt; welche Aufregung das alleine durch die Verbindung einer richtigen Beobachtung mit dem vermeintlich falschen Autor nach sich gezogen hätte. Versteht man diesen Begriff, der ja offenkundig bestens geeignet ist, jede Veranstaltung zu irritieren, im schlichten technischen Sinne des Wortes, dann bedeutet Leitkultur, dass nicht alles, was kulturell begründet oder begründbar ist, in ein und derselben Gesellschaft gleichzeitig gelten kann. Es muss klar sein, was gilt. Der Anspruch auf Vorrang des Mannes gegenüber der Frau ist mit dem Anspruch auf Gleichheit und auf Gleichberechtigung nicht vereinbar. Der Anspruch auf Freiheit der Religionsausübung, einschließlich der Freiheit, seinen Glauben zu wechseln oder aufzugeben, ist mit der gegenteiligen Auffassung, der Abfall vom Glauben sei ein strafwürdiges Verbrechen, offenkundig unvereinbar. Die Vorstellung eines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit ist mit der gleichzeitigen Vorstellung eines staatlichen Anspruchs auf Körperstrafen prinzipiell unvereinbar. Es kann nicht beides gleichzeitig gelten.

Eine Gesellschaft muss sich darauf verständigen, was gilt und damit für alle gilt, mit dieser oder jener mitgebrachten oder erworbenen kulturellen Orientierung.

Nun gibt es in diesem Zusammenhang, wie Sie wissen, immer wieder den gutgemeinten, ja auch nicht ganz falschen Hinweis auf die Normen und Werte, die im Grundgesetz kodifiziert und für alle in Deutschland lebenden Menschen gültig sind. Dieser Hinweis trifft zu, reicht aber, wie ich glaube, allein nicht aus, denn Verfassungen fallen nicht vom Himmel, sondern setzen historisch kulturell gewachsene Werte voraus, die sie in Rechtsnormen konkretisieren. Deswegen greift auch er offensichtlich weniger anstößige Begriff des Verfassungspatriotismus im Ergebnis zu kurz, weil er, jedenfalls nach meinem Verständnis, so etwas wie den genialen Ausweg einer selbstreferenziellen Identifikation anbietet: Die Selbstverständigung über eine Verfassung, die sich aus sich selbst versteht. Sie versteht sich aber nicht aus sich selbst. Verfassungen sind nie Ersatz, sondern immer Ausdruck der Kultur eines Landes, Ausdruck der Erfahrung, die ein konkretes Land mit sich selbst gemacht hat, seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Verirrungen, der Überzeugungen, die in einem Land über Jahrhunderte gewachsen sind, der Traditionen, die sich in einem Land entwickelt haben, der Orientierung, die von Generation zu Generation weiter vermittelt werden. Paul Kirchhof, lange Jahre Mitglied des Bundesverfassungsgerichts, hat deswegen völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass auch hier ein Zusammenhang besteht, der nicht beliebig zur Disposition stehen kann: „Die multikulturelle Gesellschaft ist offen, gestattet aber keinen Wettbewerb der Kulturen um den Inhalt der Verfassungsordnung. Kulturelle Offenheit setzt die Sicherheit der eigenen Rechtskultur voraus.“

Ich möchte eine letzte Bemerkung zum Thema Nationen und Staaten in Zeiten der Globalisierung machen. Hinter die Merkmale der Welt, in der wir heute leben, für die wir längst das Schlagwort Globalisierung gefunden haben, mit ihren informations- und mobilitätstechnischen Quantensprüngen, durch die die Welt zusammengerückt und vernetzt ist wie nie zuvor – hinter diese Merkmale der Welt gibt es kein Zurück. Und wenn das so ist, hat das Folgen nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Politik, übrigens auch für die Kultur. Die wichtigste politische Folge dieser irreversiblen Globalisierung mit den damit verbundenen Vernetzungen und wechselseitigen Abhängigkeiten ist, dass Nationalstaaten im 21. Jahrhundert zunehmend das verlieren oder schon verloren haben, was sie für ihr klassisches Merkmal über Jahrhunderte hinweg gehalten haben: Souveränität. Nicht im juristischen Sinne des Wortes, sondern im tatsächlichen Verständnis, nämlich Herren über ihre eigenen Angelegenheiten zu sein. Sie sind es nicht mehr. Schon gar nicht in dem Sinne, der der Gründung von Nationalstaaten als historischem Projekt zugrunde lag, übrigens auch dem deutschen Nationalstaat als Projekt zugrunde lag. Das, was heute real existierende Nationalstaaten auf dem Globus voneinander unterscheidet, ist nicht, dass die einen souverän sind und die anderen nicht, sondern dass die einen begriffen haben, dass sie nicht mehr souverän sind und die anderen es nicht begreifen wollen.

Der europäische Integrationsprozess ist für mich der bislang mit Abstand intelligenteste, allerdings auch komplizierteste, ehrgeizigste, schwierigste und anspruchsvollste Versuch, eine Antwort auf den Verlust staatlicher Souveränität in Zeiten der Globalisierung zu geben. Wir haben uns längst angewöhnt, die Reibungsverluste dieses Versuchs für bedeutender zu halten als die Errungenschaften. In der Europäischen Union gehen die Mitgliedsstaaten den historisch einzigartigen, beispiellosen und zugleich beispielhaften Weg, nationale Souveränitätsrechte zu übertragen, mit dem Ziel, ihre Souveränität gemeinsam zu wahren, die gerade und vor allem in Zeiten der Globalisierung nur gemeinsam mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Dieser Prozess der Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an europäische Gremien war notwendig und er war gewollt, im Übrigen von keinem Land früher und konsequenter als von Deutschland. Was wiederum nicht weiter erstaunlich ist, weil wir am Beginn dieses Prozesses Souveränitätsrechte abgetreten haben, die wir gar nicht hatten. Was wiederum bei anderen Staaten etwas komplizierter war, die schon deswegen diese Rechte nicht abtreten wollten, weil sie damals noch fest überzeugt waren, dass sie sie besäßen. Mit anderen Worten, wir tauschen zunehmend nationale Souveränität, die unter den gründlich veränderten globalen Verhältnissen politisch und ökonomisch verloren geht, gegen den Selbstbehauptungswillen einer starken Gemeinschaft, die gemeinsam die Kraft entfalten kann und entfalten soll, zu der die Nationalstaaten allein jedenfalls nicht mehr in der hinreichenden und gewünschten Weise in der Lage sind.

Kein Nationalstaat bewältigt allein den Klimawandel. Kein Nationalstaat kann die Migrationsproblematik allein lösen. Die Integrationsproblematik auch nicht. Herausforderungen wie die Sicherung von Frieden und Freiheit, eine verlässliche Energieversorgung oder die Bekämpfung von Cyberkriminalität sind nur in organisierter internationaler Zusammenarbeit lösbar. Das Projekt der europäischen Integration ist also keineswegs zu Ende. Wir stehen vielmehr in der Mitte eines Prozesses, und es ist längst überfällig zu bilanzieren, ob wir diesen Prozess und in welche Richtung wir ihn wirklich fortsetzen wollen. Dazu gibt es keineswegs identische Auffassungen unter den Beteiligten. Und jeder, der sich in der Europäische Union umsieht, wird nicht übersehen können, dass wir in der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses vermutlich nie zuvor in einer ähnlichen Lage waren wie gegenwärtig, dass wir nie mehr als heute europäische Zusammenarbeit brauchen und dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie zustande kommt, kaum je geringer war als gegenwärtig.

Schließlich will ich daran erinnern, dass es zu den Besonderheiten der Europäischen Union gehört – die auch ihr 30-jähriges Jubiläum feiert, nämlich mit dem Maastricht Vertrag, der 1993 in Kraft getreten ist, in dem sich diese Wirtschaftsgemeinschaft erstmals als politische Union definiert hat –, dass dieses Europa weder ein Staat ist noch eine Nation, sondern eine Gemeinschaft von Staaten und Nationen, die sich wiederum historisch beispiellos dadurch kennzeichnet, dass immer mehr Staaten immer mehr staatliche Aufgaben durch Verträge übertragen haben, die die Union nur erfüllen kann, indem sie sich benimmt wie ein Staat, unter gleichzeitiger Verweigerung des Staatscharakters durch alle beteiligten Mitgliedsstaaten. Auch das wird irgendwann mal geklärt werden müssen. Jedenfalls ist die Verdrängung dieses Sachverhalts ein Kern der immer wieder beschworenen und beklagten Stagnationsprobleme im europäischen Integrationsprozess, einschließlich der auf diesem Wege weiter unerledigt bleibenden Probleme.

Wenn der Integrationsprozess Europas nicht kraftvoll vorangetrieben wird, weil uns der Mut verlässt oder weil uns die falsche Einschätzung der eigenen Interessen und der Notwendigkeit, diese Interessen zu bündeln, um sie überhaupt wahrnehmen zu können, daran hindert, im 21. Jahrhundert weiter nach vorn zu marschieren, statt jeweils einzeln zurück ins 19. Jahrhundert, dann hätte Europa seine Zukunft hinter sich – und mit Blick auf unser Thema: Jeder einzelne Staat in Europa auch. Es wäre die mutlose und zugleich übermütige Wiederherstellung eines Zustandes, den dieser Kontinent mit dem Beginn des Baus der Gemeinschaft hinter sich lassen wollte: Die Rivalität von Nationalstaaten, deren Ehrgeiz größer war als ihre Möglichkeiten.

Timothy Garton Ash, der große britische Historiker hat – ähnlich wie Helmut Schmidt in dem heute schon zweimal vorgetragenen Zitat zum Gründungsaufruf der Deutschen Nationalstiftung – einmal gesagt: „Die Nation ist schlicht zu wichtig, einschließlich ihrer emotionalen Bedeutung, um sie den Nationalisten zu überlassen.“ In der Präambel zur Satzung der Deutschen Nationalstiftung heißt es: „Deshalb hat die Deutsche Nationalstiftung den Auftrag, die Nation als Teil eines vereinten Europas zu stärken.“

Nation und Europa, beiden Ideen ist die Deutsche Nationalstiftung seit ihrer Gründung vor dreißig Jahren verpflichtet. Beide Orientierungen werden wir auch in Zukunft brauchen, mindestens für die nächsten dreißig Jahre.


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de