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Eine Sache der Vernunft und des Herzens
Welt am Sonntag, 21. Mai 2023

Henry Kissinger, der bald 100-jährige Doyen der US-Außenpolitik, soll mit Blick auf die deutsche Geschichte einmal gesagt haben, Deutschland sei "eine Volkswirtschaft auf der Suche nach einem Staat" und es fehle dem Land an sinnstiftenden Traditionen. Tatsächlich verfügt Deutschland über eine zweifellos gebrochene, aber dennoch eindrucksvolle Demokratie- und Verfassungsgeschichte, die nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Ihre Anfänge lassen sich spätestens in den Auswirkungen der Französischen Revolution auf die damals ganz unterschiedlich verfassten deutschen Territorialstaaten erkennen, die über das Wartburgfest 1817 und das Hambacher Fest 1832 bis zur Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 geführt haben - dem am Ende gescheiterten ersten Anlauf zur Etablierung einer demokratischen Ordnung in einem deutschen Nationalstaat.

Der Versuch, vor 175 Jahren Demokratie und Nationalstaat gleichzeitig zu realisieren, war offenkundig zu ehrgeizig. Er scheiterte, weil die damals in der Paulskirche Versammelten keine gemeinsame Vorstellung darüber hatten, wie ein deutscher Nationalstaat aussehen sollte und wer dazugehören müsste; und auch nicht darüber, ob er eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie werden sollte. Die selbst erklärten Revolutionäre waren die auffälligeren Akteure, aber ohne Mehrheit im Parlament. Umso bitterer war für die Konstitutionalisten, dass ihre Idee eines deutschen Nationalstaates ohne Österreich mit dem Angebot einer Kaiserkrone an Preußens König Friedrich Wilhelm IV. von diesem mit einer denkwürdigen Begründung zurückgewiesen wurde: "Ich sage es Ihnen rundheraus: Soll die tausendjährige Krone deutscher Nation, die 42 Jahre geruht hat, wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und meines Gleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt!" Diese Worte des preußischen Königs sind deutlicher Ausdruck des damaligen feudalen Verständnisses staatlicher Ordnung, die keineswegs überall unpopulär war.

Dass die Frankfurter Nationalversammlung ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreicht, aber dennoch mehr als nur historische Spuren hinterlassen hat, bezeichnet die Geschichtsschreibung mitunter als "erfolgreiches Scheitern": Zwar sei das Angestrebte nicht erreicht worden, aber vieles, was sich später ereignete, hätte ohne dieses Scheitern kaum stattfinden können: Die 1849 verabschiedete Paulskirchenverfassung hatte prägenden Einfluss auf die weitere deutsche Verfassungsgeschichte, vor allem auf die Entstehung des Grundgesetzes mit seinem eindrucksvollen Grundrechtskatalog 100 Jahre später. Dass es nicht nur Brüche, sondern auch erstaunlich stabile Traditionslinien in der deutschen Verfassungsgeschichte gibt, die älter sind als unser heutiger Nationalstaat, gehört zu den gelegentlich übersehenen oder verdrängten Erfahrungen.

Roman Herzog hat als Bundespräsident anlässlich des 150. Paulskirchenjubiläums vor 25 Jahren gesagt: "Demokratie ist gewiss zuerst eine Sache der Vernunft - aber sie ist auch eine Sache des Herzens. Das wichtigste Erbe von 1848 ist der Wille zu Freiheit, Demokratie und politischer Mitverantwortung. Dieser beständige Wille ist durch nichts zu ersetzen. Noch die beste Verfassung bleibt bloßes Papier, wenn die Menschen nicht zur politischen Mitgestaltung bereit sind, und ich füge hinzu: wenn die Bürger nicht mehr davon überzeugt sind, auch tatsächlich in der Pflicht zu stehen."

Mit anderen Worten: Auch der beste Verfassungstext sichert nicht alleine die Stabilität einer Demokratie. Dramatisches Beispiel ist die Selbstauflösung der ersten deutschen Demokratie durch das berüchtigte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933: die beispiellose Selbstabdankung eines Parlaments, das die Weimarer Verfassung aushebelte und aufhob. Tatsächlich lässt sich das Scheitern der Weimarer Demokratie kaum am Text ihrer Verfassung festmachen, eher am Zusammenwirken von vielen Akteuren unter schwierigen Rahmenbedingungen. Sie sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen, heißt es oft allzu pauschal. Richtig ist, sie war eine Republik mit zu wenig engagierten Demokraten. Das gehört zu den historischen Lektionen, an die wir uns - nicht nur aus Anlass von Jahrestagen - erinnern sollten.

In den gut dreißig Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer und der autoritären politischen Systeme in Mittel- und Osteuropa hat es den erhofften weltweiten Triumph der Demokratie nicht gegeben: Die Zahl der vollwertigen Demokratien ist heute kleiner als damals. Zu den ernüchternden Erfahrungen gehört, dass politische Systeme heute, anders als in der Vergangenheit, nicht durch Bürgerkriege oder Militärputsche kollabieren, sondern sich von innen selbst auflösen und dass Wahlen das typische Mittel geworden sind, um sie aufzubrechen. Eine Reihe von Beispielen für erodierende Demokratien aus Asien, Afrika, aber auch Europa und Nord- wie Südamerika belegen diese Entwicklung. Sie zeigt, dass politische Systeme nicht unsterblich und Demokratien keine sich selbst erhaltenden Systeme sind. Es gibt keine Überlebensgarantie - weder für autoritäre noch für demokratische Systeme.

Nach dem jährlichen Demokratieindex des britischen Analyseunternehmens Economist Intelligence Unit leben weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie. Wir Deutsche gehören zu dieser glücklichen Minderheit und halten dies längst für selbstverständlich. Tatsächlich sind demokratische Verhältnisse weder der Normalfall der deutschen Geschichte noch der Welt, in der wir heute leben. Bestand haben sie, wenn Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sich für das eigene Land und seine demokratische Verfassung verantwortlich fühlen und die Geltung der vereinbarten Regeln für noch wichtiger erachten als die Durchsetzung der jeweiligen eigenen Ziele.


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