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Rede beim Festakt „2025: Jahr der Freiheit – 500 Jahre Bauernkrieg“ der Stadt Mühlhausen
Mühlhausen, 17. September 2025
Guten Abend, meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Mandatsträger - Aktive und Ehemalige – aus dem Freistaat, aus den kommunalen Vertretungskörperschaften, verehrte Gäste!
Zunächst herzlichen Dank für die freundliche Einladung hierher nach Mühlhausen in ein Jubiläumsjahr und für die besonders liebenswürdige Begrüßung. Es ist immer wieder erhebend zu erleben, lieber Mario Voigt, wie wohlwollend selbst altgediente politische Schlachtrösser empfangen werden, wenn sie nur freiwillig und rechtzeitig aus öffentlichen Ämtern ausgeschieden sind.
Ich habe die Einladung für den heutigen Abend ein bisschen leichtfertig – was ich gleich erläutern werde –, aber spontan und gerne angenommen. Zum einen deshalb, weil ich tatsächlich noch nie in Mühlhausen war; ich vervollständige heute Abend gewissermaßen meine Biografie. Zum anderen, weil mir der Anlass natürlich besonders einleuchtet und gefällt.
Viele, die meine Reden zu historischen Anlässen und Jubiläen im Deutschen Bundestag ab und zu verfolgt haben, wissen, dass für mich Geschichtsbewusstsein ein zentraler Bestandteil einer aufgeklärten, modernen, liberalen Politik ist. Ich bin sicher, dass die Initiatoren dieses Jubiläumsjahres hier in Mühlhausen und anderswo – dieses Jubiläumsjahr nicht nur aufgerufen haben, um bedeutende geschichtliche Erinnerungen wiederzuerwecken oder wachzuhalten, sondern weil sie davon überzeugt sind, dass sich aus gemachten Erfahrungen früherer Generationen Schlussfolgerung herleiten lassen.
Natürlich – das ist beinahe ein Kalauer – wiederholt sich Geschichte nie. Nie finden ein und dieselben Ereignisse unter ein und denselben gleichen Bedingungen ein zweites Mal statt. Aber wenn die Menschheit aus manchen historischen Erfahrungen intensiver gelernt hätte, wären ihr manche Probleme und einige Katastrophen erstarrt geblieben. Auch für manche der aktuellen dramatischen militärischen Herausforderungen, mit denen wir derzeit zu tun haben, gibt es historische Lektionen, die, wenn wir sie rechtzeitig begriffen hätten, uns vielleicht diese Lage erspart hätten.
Ich will auch gerne beginnen mit einem ernst gemeinten Kompliment an Sie, Herr Oberbürgermeister, stellvertretend für alle, die an diesem Jubiläumsjahr bei der Planung, Organisation und Durchführung beteiligt waren und weiter sind. Mir imponiert sehr, was eine Stadt übersichtlicher Größe – ich komme aus Berlin, das ist noch ein bisschen größer, dafür nicht ganz so alt –, was eine Stadt über ein ganzes Jahr aus einem solchen historischen Ereignis macht. Es gibt buchstäblich fast keinen Tag im Jahr, an dem nicht irgendetwas stattfindet. An manchen Tagen mehr als eine Aktivität, und es ist natürlich nicht nur der Stadt, sondern all denjenigen, die vielleicht auch aus diesem Anlass nach Mühlhausen und in andere prominente Städte des Bauernkrieges kommen, sehr zu wünschen, dass sie nicht nur die Entdeckung einer veränderten Wirklichkeit machen, sondern auch einen Blick gewinnen für die Zeit, die zwischen damals und heute liegt und für die Entwicklungen, die in dieser Zeit stattgefunden haben.
Die Landesausstellung, die ich heute Nachmittag besuchen konnte, steht unter dem Titel „freiheyt 1525 – 500 Jahre Bauernkrieg“. Schon dieser auf den ersten Blick unscheinbare Titel markiert die Botschaft: Bis 1525 gab es für die meisten Menschen keine Freiheit. Und danach? Für die meisten auch nicht. Jedenfalls lange nicht und schon gar nicht an unseren heutigen Freiheitsansprüchen und -erwartungen gemessen. In einer Rezension zu den verschiedenen Landesausstellungen, die es jetzt zum Bauernkrieg vor fünfhundert Jahren gegeben hat, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen, ich zitiere: „Der Bauernkrieg gehört zu den historischen Begriffen, die das Ereignis, das sie bezeichnen sollen, mehr verbergen als enthüllen. Was vor fünfhundert Jahren geschah, war weder ein Krieg, noch ging es allein von Bauern aus. Es war ein Volksaufstand, an dem sich neben der Bauernschaft auch Angehörige der Stadtbürgerschaft und des niederen Adels beteiligten und der in mehreren zu Massakern ausartenden Gefechten blutig niedergeschlagen wurde.“ Ende des Zitats. Es gab übrigens keine Kriegserklärung. Es gab auch keinen Friedensschluss. Wenn ich an diese Bemerkung anknüpfe, will ich einen Begriff herausgreifen, der vielleicht auch den einen oder anderen von Ihnen gleich elektrisiert haben könnte: Volksaufstand. Da haben wir ganz andere Assoziationen – und legen sie gleich wieder zur Seite mit dem vermeintlich schlagenden Argument, das eine lasse sich mit dem anderen doch nicht wirklich vergleichen.
Mit dem Begriff Volksaufstand, verbinden wir in der jüngeren Geschichte unseres Landes den 17. Juni 1953. Er war einer der frühen Volksaufstände in der Zeit des Kalten Krieges, nach dem Zweiten Weltkrieg, dem andere folgten: Budapest 1957, Prag 1968, Polen 1981. Gemeinsam ist all diesen Volksaufständen wie dem Bauernkrieg vor fünfhundert Jahren, dass sie gescheitert sind und dass sie in ihrem Scheitern Stationen einer komplizierten Geschichte zur Herstellung von Freiheit waren. Es gibt nur wenige Länder, vielleicht überhaupt kein zweites Land, das eine so komplizierte, lange, gebrochene, alles andere als gradlinige Demokratie- und Freiheitsgeschichte hat wie Deutschland. Mit vielen auffälligen und noch mehr unauffälligen Stationen. Eine dieser Stationen war der Bauernkrieg.
Er hat, wie eben manche andere der historisch gescheiterten, aber nachhaltig wirksamen Ausbrüche von Erwartungen und Ansprüchen an die Gestaltung der eigenen Zukunft, Wirkungen erzeugt, die weit über die jeweiligen Daten, an denen sie stattgefunden haben, hinausreichen. Zwischen den elf beziehungsweise zwölf Artikeln, die damals formuliert wurden, und der erstmaligen förmlichen Formulierung von Grundrechten in einem deutschen Verfassungstext 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung, gibt es natürlich eine Linie. Manches, was damals scheinbar folgenlos reklamiert worden war, wurde gut dreihundert Jahre später aufgegriffen und blieb zunächst auch beinahe folgenlos. Denn die Verfassung, die in der Frankfurter Paulskirche beraten und beschlossen wurde, ist bekanntlich nie in Kraft getreten, weil der damalige Versuch, in einem Anlauf den bis dahin nicht vorhandenen deutschen Nationalstaat zu errichten und ihm gleichzeitig eine demokratische, eine liberale, eine freiheitliche Verfassung zu geben, vielleicht doch ein bisschen zu ehrgeizig war. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Aber ohne das, was damals in Frankfurt versucht wurde, in einem erstmals gewählten Nationalkonvent, in einer Nationalversammlung aus gewählten Vertretern verschiedenster Regionen in Deutschland, war die Voraussetzung, an die dann später unter glücklicheren Umständen zum Beispiel der Parlamentarische Rat anschließen konnte, der einen nicht zufällig sehr ähnlichen, in einzelnen Punkten textgleichen Grundrechtskatalog, diesmal an die Spitze einer Verfassung gesetzt hat, die unter den damaligen Bedingungen nicht einmal Verfassung heißen sollte, sondern Grundgesetz; die vorläufige Geschäftsgrundlage eines nicht souveränen westdeutschen Staates, deren 75. Geburtstag wir im vergangenen Jahr gefeiert haben und von dem sich die wenigsten vorstellen können und kaum einer weiß, dass diese provisorische Verfassung mit ihren 75 Jahren jetzt zu den ältesten geltenden Verfassungen der Welt gehört.
Es sind die langen Linien historischer Entwicklungen, die wir nur selten übersehen, schon gar nicht täglich im Bewusstsein haben, ohne die sich aber die Gegenwart, in der wir leben und mit der wir zu tun haben, und die Bedingungen, unter denen wir leben, nicht verstehen und nicht wirklich begreifen lassen. Deswegen habe ich, wie anfangs erwähnt, gerne spontan und zugleich ein bisschen leichtfertig zugesagt, als ich gefragt wurde, ob ich bereit wäre, für eine beabsichtigte Veranstaltungsreihe zu diesem Thema einige Überlegungen beizutragen. Leichtfertig war die Zusage deswegen, weil mir das Anliegen anfangs simpler vorkam, als es bei sorgfältiger Betrachtung ist. Nichts ist scheinbar einfacher, als sich über Freiheit zu verständigen. Haben Sie schon jemals irgendjemanden getroffen, der dagegen wäre? Kann man sich auch nur vorstellen, dass irgendjemand sagt, darauf lege er keinen Wert?
Aber was ist mit dieser Selbstverständlichkeit gewonnen? Alle praktischen Fragen bleiben offen. Übrigens hat das der Freiheitsbegriff mit mindestens zwei anderen Begriffen gemeinsam, die ähnlich sympathisch, ähnlich unumstritten und ähnlich diffus sind: Wahrheit und Liebe. Jeder ist dafür, niemand ist dagegen. Keiner käme auf die Idee, sie ernsthaft infrage zu stellen. Aber die Frage: Woran erkennt man eigentlich, was wahr ist, was Liebe ist, was Freiheit ist? Wie kommt das eigentlich zustande? Wie kann man es erhalten und festigen?
Diese Fragen kann niemand abschließend beantworten. Ich auch nicht. Jetzt könnte ich eigentlich aufhören, dann würden wir auch im Zeitplan bleiben, Herr Oberbürgermeister. Ganz so einfach will ich es mir und Ihnen aber auch nicht machen. Ich will besonders gerne an die Reihe von Äußerungen anknüpfen, die wir gerade im Film gesehen haben, wo Menschen aus dieser Stadt ganz spontan gesagt haben, was ihnen einfällt, wenn man sich fragt: „Was ist für Sie Freiheit?“ Dann wird deutlich, dass das, was sie jeweils sagen, ähnlich ist, aber eben nicht dasselbe.
Das Freiheitsverständnis, dass zum Beispiel ein Berliner Blogger oder eine Stuttgarter Impfgegnerin jeweils haben, ein russischer Bürgerrechtler, ein ukrainischer Frontsoldat oder eine deutsche Klimaaktivistin, haben möglicherweise nicht mehr miteinander gemeinsam als den Begriff. Welches Freiheitsverständnis hatte Johann Sebastian Bach? Und welches Thomas Müntzer? Beide sind hinreichend auch mit Ausbrüchen eines ausgeprägten Freiheitswillens aufgefallen, hatten aber ganz sicher nicht das gleiche Freiheitsverständnis. Glücklicherweise müssen wir die Frage heute Abend auch nicht abschließend klären, weil wohl die feste Absicht besteht, jedes Jahr neu darüber nachzudenken, wobei ich die Prognose wage: jedes Jahr mit dem gleichen Ergebnis. Abschließend lässt sich die Frage nicht beantworten. Es wäre auch fast paradox, wenn ausgerechnet der Freiheitsanspruch ein für alle Mal abschließend zu bestimmen wäre.
Ich habe mir vorgenommen, ergänzend zu der Reihe von spontanen Auskünften, einige andere Einschätzungen vorzutragen von prominenten Persönlichkeiten, die sich mit dem Freiheitsthema professionell beschäftigt haben, Philosophen, Staatsrechtler, Autoren, Soziologen, um mit ihnen zu verdeutlichen, womit wir es zu tun haben, wenn wir über Freiheit und Gemeinschaft und damit Freiheit in Gemeinschaft nachdenken.
Niemand hat vorhin erwartungsgemäß protestiert, als der Ministerpräsident gesagt hat, er vermute, dass Freiheit und Gemeinschaft nicht nur keine Gegensätze sind, sondern beinahe zueinander gehören. Falls jemandem das nicht sofort einleuchtend war, will ich ihm jedenfalls ausdrücklich zur Seite springen. Ich vermute das auch. Der Freiheitsbegriff macht eigentlich nur unter den Bedingungen einer Gemeinschaft Sinn. Worin soll die Freiheit bestehen, wenn es keine wie auch immer geartete Gemeinschaft gibt? Freiheit vollzieht sich immer im Kontext einer konkreten Gemeinschaft, der Familie, der Firma, einer Kirche, einer Partei, eines Staates. Der berühmte einsame Mensch auf einer einsamen Insel ist nicht frei. Er ist alleine. Was nicht dasselbe ist. Er hat gegenüber niemandem einen Anspruch. Er ist auf sich allein gestellt – und er ist mindestens so abhängig, wie er unabhängig ist, weil ihm für nichts irgendeine Assistenz, Unterstützung oder Begleitung zur Verfügung steht.
Von Georg Friedrich Hegel, von dem ich vermute, dass er nie in Mühlhausen war, stammt der vielzitierte Satz: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit.“ Das ist einer dieser schönen, auf den ersten Blick nicht nur eindrucksvollen, sondern auch sofort einleuchtenden Sätze, die aber spätestens auf den zweiten Blick mindestens so fragwürdig im Wortsinne sind, wie sie sich lesen. Jedenfalls liegt diesem Verständnis ganz offenkundig nicht eine empirische Beobachtung zugrunde, dass die Weltgeschichte sich genau so entwickelt habe als unablässiger Fortschritt im Bewusstsein und in der Umsetzung von Freiheit, sondern die normative Vorstellung, dass es so sein solle. Ärgerlicherweise vollzieht sich die Entwicklung von Freiheit, übrigens auch von Fortschritt, in der Wirklichkeit einer Gesellschaft weder gradlinig noch zielsicher. Wiederum ist dafür die deutsche Geschichte ein besonders eindrucksvoller Beleg. Bei Montesquieu, dem berühmten französischen Staatsrechtler und Staatsphilosophen, kann man in seiner berühmten Schrift Vom Geist der Gesetze lesen: „In einem Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen darf. Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben.“ Das ist nicht besonders großzügig und bleibt schon hinter dem zurück, was der große Zeitgenosse von Montesquieu, nämlich Jean-Jacques Rousseau, zum gleichen Thema geäußert hat: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
Machen wir jetzt einen Sprung in die Gegenwart zu Armin Nassehi, einem der bekannten, einflussreichen deutschen Soziologen. Bei ihm habe ich gelesen, ich zitiere: „ Bürgerliche Freiheit ist die, bei der wir nicht tun, was wir sollen, sondern wollen, was wir sollen.“ Zitat Ende. So sind die Soziologen. Wollen wir wirklich, was wir sollen? Und warum sollen wir ausgerechnet das wollen, was wir vermeintlich sollen? Jedenfalls ist das in meiner Wahrnehmung schon ein sehr postmodernes Verständnis von Freiheit, schon gar in Zeiten des Populismus. Heutzutage reklamiert beinahe jeder das, was im Augenblick ihm besonders interessant und wichtig erscheint, als unanfechtbaren Freiheitsanspruch und nimmt dafür mindestens die Meinungsfreiheit in Anspruch, die ihm im Übrigen jedenfalls in diesem Land verfassungsrechtlich einklagbar garantiert ist, wobei darunter zunehmend beliebige Auffassungen, Interessen, Erwartungen und Positionen geäußert werden können.
Heinrich Heine, ein kluger Beobachter, der damals aufkeimenden Freiheits- und Demokratiebestrebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat vor beinahe zweihundert Jahren daran erinnert, ich zitiere wieder: „Freiheit der Meinung setzt voraus, dass man eine hat.“ Das leuchtet auch sofort ein. Daran ist nachweislich hierzulande kein Mangel. Ein Mangel besteht schon eher darin, einzusehen, dass die Freiheit der Meinung nicht nur voraussetzt, dass man selber eine Meinung hat, sondern dass man auch eine andere gelten lässt. Da befinden wir uns schon wieder auf eher schwierigem Gelände, weil Freiheit in Gemeinschaft stattfindet und nicht ohne eine Gemeinschaft. Meinungsfreiheit ist das Recht zum Widerspruch gegen andere Meinungen, aber kein Anspruch auf Befreiung vom Widerspruch gegen die eigene Meinung. Man möchte diese Bemerkung für überflüssig halten, ist sie aber leider nicht, weil uns heute Meinungsfreiheit zunehmend in Gestalt eines Fundamentalismus begegnet, der die eigene Meinung nicht nur mit Nachdruck vertritt, sondern die eigene Meinung als die einzig mögliche ausgibt – nicht selten verbunden mit einer gouvernantenhaften Attitüde der Bevormundung anderer, was sie gefälligst für ihre aufgeklärte Meinung zu halten haben. Dieses Missverständnis von Freiheit im Allgemeinen und Meinungsfreiheit im Besonderen gehört zu den gerne übersehenen, aber besonders weit verbreiteten Krankheitssymptomen einer scheinbar unangefochtenen und zugleich herausgeforderten Demokratie in Deutschland.
Zu den Errungenschaften unserer Zivilisation, jedenfalls in meinem Verständnis, gehört, dass wir Freiheit vom Einzelnen her denken und die Gesellschaft vom Einzelnen her interpretieren – und ihr ihre Rolle zuweisen – und nicht die Person von der Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu Altersgruppen, zu einem Geschlecht, zu einer Religion, zu Berufsgruppen, prägt ganz sicher Individuen, aber es definiert sie nicht. Die Identitätszuschreibung als Frau oder Mann, als Christ oder Muslim, als jüngerer oder älterer Mensch, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, als Demokrat oder Despot, verkürzt die eigene Identität auf den vermeintlichen Vorrang von Gruppenzugehörigkeiten über deren Relevanz, wenn es um Freiheit geht, gefälligst der Einzelne für sich selbst entscheiden muss und nicht Gruppen für diese. Nach meinem Freiheitsverständnis bin ich – bevor ich Mann oder Frau, Katholik oder Protestant, gläubig oder ungläubig, Künstler oder Landwirt, jung oder alt bin – Individuum. Wie wichtig mir welche Identitäten als Person sind, entscheide ich doch am liebsten selbst und lasse ungern andere darüber befinden. Dazu gibt es wiederum einen außerordentlich klugen Satz von Navid Kermani, einem der besonders viel gelesenen, mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten deutschen Autor mit iranischer Herkunft, bekennender Muslim, habilitierter Islamwissenschaftler, der vor vielen Jahren in einem Buch geschrieben hat: „Ich weigere mich, mich auf eine Identität reduzieren zu lassen und sei es auch meine eigene.“ Von Erich Fried schließlich, den viele von Ihnen vermutlich mindestens als Autor kennen und manche Gedichte von ihm gelesen haben, der vielleicht auch deswegen über einen so beachtlich langen Zeitraum ein so populärer Autor und vor allem Lyriker war, weil er sich mit den Menschen und den gesellschaftlichen Bedingungen, den Gemeinschaften, in denen sie leben, beschäftigt und auseinandergesetzt hat, stammt der schöne Satz: „Wer sagt, hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.“ Lügt der wirklich? Wo keine Freiheit herrscht, gibt es keine. Von welcher Seite wir uns auch immer dem Thema annähern: es wird nicht übersichtlicher, sondern eher immer komplizierter.
Wenn man, um an eine Bemerkung des Oberbürgermeisters in seiner Begrüßung anzuknüpfen, sich empirisch mit der Frage nach dem für Hegel unvermeidlichen Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit erkundigt, dann stößt man auf nüchterne Befunde. Bei jeder Befassung mit der tatsächlichen Entwicklung der Freiheit auf diesem Globus und freiheitlichen Staatsverfassungen, auf dem Papier und in der Realität, kommen wissenschaftliche Forschungsinstitute mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit zu dem Ergebnis, dass in den letzten Jahren das Maß der Freiheit nicht zugenommen, sondern abgenommen hat. Unter den rund zweihundert in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten auf dieser Welt gibt es allenfalls zwei, bei großzügiger Betrachtung drei Dutzend Länder, die als liberale, also freiheitliche Demokratien gelten können. In denen leben deutlich weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung. Wir gehören dazu. Ist Freiheit selbstverständlich? Ganz offenkundig nicht. Freiheit ist nicht der Normalzustand der Lebensverhältnisse auf dieser Welt. Es ist auch nicht der Normalzustand der deutschen Geschichte gewesen, woran der Bauernkrieg besonders eindrucksvoll erinnert. Es hat bis in unsere Gegenwart hinein Freiheitskämpfe gebraucht, um Freiheit nicht nur als Anspruch, sondern als Realität durchzusetzen.
Wenn man unter einer liberal verfassten Gesellschaft, einem freiheitlichen Staat, ein System versteht, in dem in regelmäßigen Abständen die Menschen die Möglichkeit haben, selbst darüber zu entscheiden, von wem sie regiert werden wollen; wenn zu den Voraussetzungen dieser Erwartung natürlich gehören muss, dass es Alternativen geben muss, sonst gibt es keine freien Wahlentscheidungen, und dass dies Alternativen sein müssen zwischen Konzepten, zwischen Programmen, zwischen Parteien, zwischen Personen; und dass unter denen, wenn schon kein gleicher, dann jedenfalls ein fairer Wettbewerb gewährleistet sein muss, um sich um Gestaltungsansprüche zu bewerben; dass auch durch freie Wahlen erteilte Mandate nicht ein für alle Mal vergeben werden, sondern immer nur für einen definierten Zeitraum und danach wird neu gewählt; und dass auch für diesen befristeten Zeitraum keine Allzuständigkeiten vergeben werden, sondern definierte begrenzte Zuständigkeiten – Gewaltenteilung; dass zwischen der Zuständigkeit, die Normen einer Gesellschaft zu setzen, die Regeln, die in einer Gesellschaft, auch und gerade in einer freiheitlichen Gesellschaft gelten sollen, und der Kompetenz, diese Regeln durchzusetzen, umzusetzen, was gelten soll, unterschieden werden muss; und dass eine liberale, eine freiheitliche Gesellschaft unabhängige Gerichte braucht, die weder Weisungen von Parlamenten und schon gar nicht Weisungen von Regierungen unterliegen dürfen; und wenn man darüber hinaus den beinahe luxuriösen Anspruch erhebt, dass über dieses komplizierte System gewaltenteiliger Vergabe von Ämtern und Funktionen mit befristeter Amtszeit in freien Wahlen unter fairen Wettbewerbsbedingungen auch so etwas wie individuelle Grundfreiheiten gehören sollen, die auch und gerade gegenüber anderen und nicht zuletzt gegenüber dem Staat einklagbar und durchsetzbar sein müssen und die fast alle mit Freiheitsansprüchen zu tun haben – Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst – wenn das der historisch gewachsene Anspruch an eine ernstzunehmende Demokratie ist, dann gibt es auf dem Globus, auf dem wir leben, eben gerade mal zwei oder drei Dutzend reale politische Systeme, die diesem Anspruch genügen.
Wenn wir jetzt mehr Zeit hätten, als man sich vernünftigerweise für einen solchen Abend nehmen kann, würde es mindestens Sinn machen, sich auch mit der Frage zu beschäftigen, warum in der komplizierten, aber hochillustrativen deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte der erste Anlauf, ein freiheitliches demokratisches System zu etablieren, so früh gescheitert ist – die Weimarer Republik, die nicht einmal volljährig wurde – und der zweite Anlauf mit seinen fünfundsiebzig Jahren sich inzwischen immerhin im Renten- und Pensionsalter befindet. Wenn man sich das Grundgesetz und die Weimarer Verfassung anschaut und durch beide Texte blättert, dann wird man feststellen: Das liest sich beides ähnlich gut. Das sind zwei grundvernünftige Texte mit erstaunlichen Parallelen, teilweise sind sie sogar textidentisch.
Je länger man das liest, desto mehr beschleicht einen die zutreffende Vermutung, an einer miserablen Verfassung kann das Scheitern der ersten deutschen Demokratie nicht gelegen haben. Sie ist auch nicht daran gescheitert. Gescheitert, neben manchen schwierigen Rahmenbedingungen, ist die erste deutsche Demokratie am fehlenden Engagement von Demokraten. Manche Historiker, die sich mit dieser Zeit besonders intensiv auseinandersetzen, haben das etwas arg holzschnittartig auf den Begriff gebracht, Weimar sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen. Das ist sicher übertrieben. Es gab nachweislich Demokraten, leidenschaftliche Demokraten. Manche haben im Einsatz für eine freiheitliche Demokratie ihr Leben gelassen. Aber es waren zu wenige, und diejenigen, die es gab, fanden die Rivalität untereinander noch wichtiger als die gemeinsame Verantwortung aller Demokraten für die Stabilität einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung. Daran ist die erste deutsche Demokratie gescheitert. Mal nur nachrichtlich: Die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Regierung der Weimarer Republik ist an der fehlenden Bereitschaft der Koalitionäre gescheitert, sich auf einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu einigen. Falls Ihnen da Parallelen einfallen, sind Sie auf dem richtigen Weg.
Es stimmt nicht, dass man aus der Geschichte nur lernen könne, dass sich nichts aus der Geschichte lernen lasse. Im Gegenteil, manche Fehlentwicklungen kann man sich ersparen, wenn man die Wirkungen zur Kenntnis nimmt, die Lektionen lernt, die gemachte historische Erfahrungen vermitteln. Freiheit ist ganz offensichtlich kein Naturzustand, sondern ein Produkt der Zivilisation. Freiheit entsteht immer in Gemeinschaften. Sie wird in Gemeinschaften erlebt, gelebt, errungen, verwirkt, verloren; sie ist nur in diesem Zusammenhang vorstellbar. Freiheit hat Voraussetzungen, ohne die sie nicht entsteht und Wirkungen, ohne die sie nicht zu haben ist. Das Bekenntnis zur Freiheit bleibt folgenlos, wenn diese Bedingungen nicht mitgedacht und gewollt werden. Es ist naiv zu erwarten, dass ausgerechnet die Freiheit keine Bedingungen habe. Von den Bedingungen, ohne die sie nicht überlebt, ist die wichtigste Einsicht derjenigen, für die sie gedacht ist, dass sie selbst für sie verantwortlich sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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