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Wehrhaft und demokratietüchtig
Süddeutsche Zeitung, 17.06.2025

Wir müssen kriegstüchtig werden“, mahnte Verteidigungsminister Pistorius wiederholt unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und des Zustandes der Bundeswehr. Die sicherheitspolitische Lage Europas hat sich spätestens seit Beginn der russischen Invasion grundlegend verändert. Nun wird sie zusätzlich durch die Zweifel an der Verlässlichkeit des transatlantischen Bündnispartners USA belastet. In Reaktion darauf soll Ende Juni im Rahmen des Nato-Gipfels ein deutlich höheres Ausgabenziel beschlossen werden. Das von US-Präsident Trump geforderte Fünf-Prozent-Ziel würde auch unter Anrechnung militärisch relevanter Infrastrukturinvestitionen eine massive Ausweitung der nationalen Militärausgaben bedeuten.

Nachdem in Deutschland noch vor Beginn der neuen Legislaturperiode die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben faktisch aufgehoben wurde, mangelt es nicht mehr an finanziellen Mitteln. Wohl aber an Personal für die Bundeswehr, um die Wehrhaftigkeit Deutschlands sicherzustellen und die Nato-Zusagen zu erfüllen. Um diese personelle Lücke zu schließen, ist es zweifellos ein wichtiger und notwendiger erster Schritt, die Attraktivität des Wehrdienstes und seine Aufwuchsfähigkeit zu steigern, wie es der Koalitionsvertrag von Union und SPD vorsieht.

Solange es an Kapazitäten, Ausstattung und Logistik mangelt, kann die Bundeswehr nur eine begrenzte Anzahl an Soldatinnen und Soldaten ausbilden. Sobald aber die Voraussetzungen geschaffen sind, um eine höhere Zahl an Wehrdienstleistenden aufzunehmen, wird ein verpflichtender Wehrdienst unumgänglich, wenn die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes ernsthaft und nachhaltig gestärkt werden soll. Die inzwischen fast unumstrittene Erwartung, dass ein verpflichtender Wehrdienst, wenn überhaupt, gleichermaßen für Frauen wie Männer gelten soll, macht eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich. Diese erhebliche verfassungsrechtliche Hürde darf in ihrer politischen Wirkung weder unterschätzt noch als resignative Ausrede zur voreiligen Absage einer notwendigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung genutzt werden.

Die Debatte um die Ausgestaltung einer Dienstpflicht greift zu kurz, wenn sie sich nicht auch explizit mit einer sozialen Komponente befasst. Ein verpflichtender Wehrdienst sollte grundsätzlich eingebettet sein in das größere Konzept einer gesellschaftlichen Dienstpflicht. Denn eine Demokratie ist nur so wehrhaft, wie es ihre Gesellschaft ist. Es gilt, sie gleichermaßen nach außen wie nach innen zu stärken; dazu bedarf es nicht nur militärischer, sondern auch insbesondere gesellschaftlicher Stärke. Deshalb sollte jede Überlegung zur Einführung eines verpflichtenden Wehrdienstes auch im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Dienstpflicht erfolgen.

Als der Bundespräsident vor drei Jahren die Einführung einer „sozialen Pflichtzeit“ anregte, stieß der Vorschlag zunächst auf erhebliche Vorbehalte; unter den politischen Parteien fand er nur bei der Union Unterstützung. Mittlerweile jedoch mehren sich die Stimmen, die einen solchen verpflichtenden Dienst nicht nur für vertretbar, sondern für notwendig halten. So befürwortet etwa Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Kombination aus Wehr- und Zivildienst und tritt für „ein republikanisches Pflichtjahr aller jungen Bürgerinnen und Bürger“ ein. Die frühere Wehrbeauftragte Eva Högl, die den Vorschlag zunächst kategorisch ablehnte, unterstützt inzwischen ein breit angelegtes verpflichtendes Gesellschaftsjahr: „Das könnte man in allen Bereichen unserer Gesellschaft absolvieren, im sozialen Bereich, im Umweltbereich, Kultur, Blaulichtorganisationen und eben auch bei der Bundeswehr.“

Bundeskanzler Merz hat sich vor und nach den Bundestagswahlen – wie die Union in ihrem Grundsatzprogramm – wiederholt für ein gesellschaftliches Pflichtjahr ausgesprochen und richtete sich erst kürzlich im Rahmen der Digitalkonferenz Republica mit einem Appell an die junge Generation: „Dieses Land bietet Euch unglaublich große Chancen, …, aber wenn das so ist, dann müsst Ihr auch einen Beitrag dazu leisten, dass das so bleibt, und dass wir das gemeinsam leisten können.“ Damit spricht er einen zentralen Punkt an: Unsere Demokratie kann nur bestehen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes aktiv für die Gemeinschaft einbringen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Allzu oft werden die Bedingungen, unter denen wir in Deutschland leben, in einem freiheitlichen, demokratischen Rechts- und Sozialstaat, als selbstverständlich betrachtet. Tatsächlich ist das Leben in Frieden und Freiheit nicht der „Normalzustand“ der deutschen wie der europäischen Geschichte, sondern historisch betrachtet der Ausnahmezustand. Wir sollten bereit sein, die Menschen für unsere Demokratie auch in die Pflicht zu nehmen, ihnen nicht nur eine abstrakte, sondern konkrete Mitverantwortung zuzumuten.

Glücklicherweise gibt es schon jetzt auch ohne eine gesetzliche Verpflichtung hohe Bereitschaft zu sozialem, gemeinnützigem Engagement. Das zeigen schon die fast 100 000 vorwiegend jungen Menschen, die sich in unserem Land in einem Jugend- oder Bundesfreiwilligendienst engagieren. Doch angesichts der vielfältigen aktuellen Krisen und Herausforderungen und den damit einhergehenden, deutlich erkenn- und spürbaren Rissen und Spaltungen in unserer Gesellschaft gilt es jetzt mehr denn je, den sozialen Zusammenhalt durch einen Dienst an der Gesellschaft zu fördern. Im Rahmen eines solchen gesellschaftlichen Dienstes würden Menschen milieuübergreifend zusammenarbeiten und so ihren persönlichen Horizont erweitern. Wo sonst kommen ein Arbeiterkind oder eine Bankiers-Tochter für eine Lebensphase in direkten Austausch auf Augenhöhe als in einer Bundeswehr-Kaserne oder einem Behinderten-Wohnheim?

Eine Dienstpflicht müsste und sollte jedoch keineswegs nur die junge Generation betreffen. Grundsätzlich handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, das von der breiten Bevölkerung getragen werden muss. Die Begegnungen von Menschen mit verschiedenen sozialen oder kulturellen Hintergründen erweisen sich in jedem Lebensabschnitt als bereichernd. Allerdings sind es die jungen Menschen, die vermutlich am stärksten von der Chance profitieren, einen Einblick in andere Lebensrealitäten zu erhalten, auf deren Grundlage sie wegweisende Entscheidungen für ihr weiteres persönliches wie berufliches Leben treffen können.

Soll es zu einer verbindlichen Regelung kommen, wird man ambitionierte Lösungen für diese ehrgeizige gesellschaftspolitische Zielsetzung finden müssen. Fragen der konkreten Ausgestaltung eines solchen Dienstes, von der Dauer über die Bedingungen bis zu den Einsatzbereichen, sind Gegenstand eines breiten öffentlichen Diskurses. Es wird darauf ankommen, jungen Menschen ein Angebot zu machen, sich im Rahmen eines selbst gewählten gemeinnützigen Dienstes für die Gesellschaft zu engagieren, der den Interessen des Einzelnen entspricht und persönlichen Mehrwert bietet, von dem gleichzeitig aber auch die Gemeinschaft profitiert.

Solange es keine gesetzliche Grundlage für eine entsprechende allgemeine Dienstpflicht gibt, ist es richtig und notwendig, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, den Freiwilligendienst und das Freiwillige Soziale Jahr durch zusätzliche Stellen und eine bessere finanzielle Ausstattung zu stärken. Hier lässt der Koalitionsvertrag den Ehrgeiz vermissen, der für milliardenschwere Mehrausgaben für die Mütterrente oder die Anhebung der Pendlerpauschale deutlich wird. Darüber hinaus bieten sich weitere Maßnahmen an, um die Attraktivität der bestehenden Freiwilligendienste gezielt zu erhöhen: Von einer zeitlich flexibleren und inhaltlich-thematisch breiteren Ausgestaltung des Dienstes über eine höhere Vergütung der Dienstzeit bis hin zu der Möglichkeit, den geleisteten Dienst im In- oder auch im Ausland etwa als Praktikum im Rahmen einer Ausbildung oder eines Studiums anzurechnen, ist hier vieles vorstellbar. Konkrete Anreize wie ein kostenloser Führerschein, das Deutschlandticket oder ein erleichterter Zugang zu Studienplätzen gehören dazu.

Auch andere Länder befassen sich damit, wie die nationale Wehrhaftigkeit um eine gesellschaftliche Komponente erweitert werden kann: In Frankreich führte Emmanuel Macron 2019 den Service National Universel als einmonatigen Dienst von Jugendlichen an der Gemeinschaft ein, der sowohl militärische Grundelemente als auch gemeinnütziges Engagement umfasst. Der Dienst zielt darauf ab, die Widerstandsfähigkeit der gesamten französischen Gesellschaft zu stärken, aber auch das Interesse junger Menschen für diese Tätigkeiten für die Gesellschaft zu wecken.

Richtig ist: Wer sich einer Gesellschaft zugehörig fühlt, ist auch eher bereit, diese zu verteidigen. Die Bundeswehr nur an Attraktivität gewinnen, wenn junge Menschen unser Land und unsere Gesellschaft als etwas begreifen, das es wert ist, verteidigt zu werden. Ein obligatorischer Wehrdienst allein vermag dieses Bewusstsein nicht zu schaffen. Doch ein verpflichtender gesellschaftlicher Dienst, der die Menschen unseres Landes wieder näher zusammenbringt, aus vielen Einzelinteressen ein größeres „Wir“-Gefühl schafft, könnte einen wirklichen Unterschied machen.


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