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Errungenschaften und Herausforderungen. Zur politischen Lage nach der Bundestagswahl
Die Politische Meinung, PoM 25/II, Nr. 590, 70. Jahrgang

Wahlen sind Hochfeste der Demokratie. Ihr Ausgang hat maßgebliche Auswirkungen auf die politischen Entwicklungen in der jeweils kommenden Legislaturperiode, zugleich kommt durch sie die innere Verfasstheit eines Landes und seiner Gesellschaft zum Ausdruck, ablesbar am jeweiligen Wahlergebnis. In dieser Hinsicht war das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl sowohl aufschlussreich und zugleich alarmierend für die Akzeptanz der Demokratie in Deutschland.

„Die Demokratie verliert an Vertrauen. Unsere Demokratie ist in Gefahr“, warnte nicht nur Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner im Sommer 2024. Der Historiker und Yale-Professor Timothy Snyder war Anfang 2025 dagegen der Auffassung, Deutschland sei heute „die wichtigste Demokratie der Welt. […] die größte funktionierende Demokratie“. Beide Beobachtungen sind nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig, jedenfalls unvollständig.

Fakt ist: Die Sicherung unserer Demokratie zählt zu den größten Baustellen für die künftige Bundesregierung. Dabei wird es nicht nur auf die Politikinhalte ankommen, sondern nach dem Eindruck des Dauer-Streits in der Ampel-Koalition auch auf den Politikstil nach innen wie nach außen. Beides wird Auswirkungen auf die Bundestagswahl im Jahr 2029 haben, in welchem auch die Europawahl, die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie neun Kommunalwahlen stattfinden werden. Um es mit den Worten Konrad Adenauers zu sagen: „Mit dem Sieg einer Bundestagswahl ist es nicht getan, sondern man muß auch an die Arbeit gehen für die nächste Wahl.“

Das Wahlergebnis beinhaltet bei kritischer Betrachtung nicht viele positive, dafür manche bedenkliche, bisweilen gar alarmierende Befunde. Eindeutiger Wahlsieger ist die Union, die mit 28,5 Prozent jedoch ihr historisch zweitschlechtestes Ergebnis erzielt. Die Regierung ist abgewählt worden, was für eine vitale Demokratie nicht unüblich ist, in dieser Deutlichkeit dagegen schon: SPD und FDP erzielen ihre historisch schlechtesten Ergebnisse. Die Liberalen scheitern nach 2013 erneut an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Grünen verzeichnen zwar das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte, verlieren aber auch. Der kontinuierliche Vertrauensverlust der Ampel-Koalition bis zum vorzeitigen Ende der Legislaturperiode hat die politische Mitte erheblich schrumpfen lassen: 76,1 Prozent der Stimmen vereinten 2021 jene Parteien zusammen auf sich, nun nur noch 56,6 Prozent. Einzig die Union legt als Partei der politischen Mitte zu. Die politischen Ränder, AfD, Linke und das ganz knapp nicht ins Parlament einziehende BSW, haben insgesamt 19,3 Prozentpunkt hinzugewonnen.

Profitiert haben sie auch von der zum vierten Mal in Folge gestiegenen Wahlbeteiligung, die mit 82,5 Prozent die höchste seit der Wiedervereinigung ist. Auch das ist einer der wenigen positiven Befunde, spricht es doch für die Vitalität unserer Demokratie. Allerdings haben viele, die sich bei der letzten Wahl enthielten, nun Parteien der politischen Ränder erheblich gestärkt – in einem für das Parlament historischen Ausmaß: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat die politische Mitte keine Zweidrittelmehrheit für Grundgesetzänderungen, und die ehemals großen Volksparteien haben zusammen gerade eine Mehrheit der Mandate, aber nicht einmal die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Dies wird die Arbeit der künftigen Bundesregierung erheblich erschweren: Seit 1949 haben sich über Jahrzehnte stets stabile Regierungsbündnisse zwischen Parteien der politischen Mitte gebildet, während die Kontrolle der jeweiligen Regierung durch eine möglichst starke demokratische Opposition erfolgte. Die AfD wird künftig als zweitstärkste Fraktion „Oppositionsführerin“ sein, zu der wiederum Grüne und Linke in Opposition stehen werden. Die weitere Polarisierung der Parlamentsfraktionen dürfte – so eine Lehre seit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 – nicht ohne Einfluss auf die Parlamentskultur bleiben.

Zu Zeiten früherer Großer Koalitionen aus Union und SPD galten diese immer als abträglich für eine vitale parlamentarische Demokratie, da zu befürchten war, dass sich ein beachtlicher Teil der Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Interessen nicht in der Regierung oder gar im Parlament repräsentiert fühlt, was in der Regel die politischen Ränder stärkt. Das nun ausgerechnet nach drei Jahren Regierungszeit des auf Bundesebene neuen Ampel-Koalitionsmodells die Ränder in nie dagewesener Weise erstarkt sind, ist zum einen der desolaten Bilanz dieser Regierung geschuldet.

Eine weitere Ursache liegt in der gegenüber 2021 noch einmal gestiegenen Polarisierung und Fragmentierung der Wählerschaft. Der bereits bei der vergangenen Wahl deutlich gewordene Umbruch in der Wählerlandschaft hat sich noch einmal verstärkt. Immer mehr Wählerinnen und Wähler sind bereit, abwechselnd für unterschiedliche Parteien zu stimmen. Vor allem die AfD profitierte von der zunehmenden Volatilität und gewann, mit Ausnahme leichter Verluste an das BSW, von allen Parteien Stimmen hinzu, am stärksten aus dem Nichtwählerlager (1,8 Millionen Stimmen). Besonders bemerkenswert ist, dass von den 18- bis 24-jährigen Wählerinnen und Wählern beinahe die Hälfte die Linke (26 Prozent) oder die AfD (21 Prozent) gewählt hat. Vor drei Jahren neigte diese Wählergruppe eher den Grünen (23 Prozent) und der FDP (21 Prozent) zu, die zusammen aktuell auf nur noch 16 Prozent kommen, während die beiden künftigen Koalitionspartner zusammen weniger als ein Viertel der Jungwählerstimmen erhalten haben.

Auffällig ist, dass die Wechselbereitschaft weiter zugenommen hat, obwohl die persönliche Polarisierung – die Neigung, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen nichts zu tun haben zu wollen – messbar gestiegen ist: Misstrauen und Ablehnung gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft nehmen zu, das Vertrauen in den Staat, staatliche Institutionen und insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien schwindet. Für unsere auf Konsens und Kompromiss, auf Zusammenhalt und Solidarität angewiesene demokratische Gesellschaft sind solche Verwerfungen ein bedenklicher Zustand.

Auch bei der Positionierung zu politischen Streitfragen haben die Wählerschaften sich weiter voneinander entfernt. Die Ansichten über Fragen, ob es mehr oder weniger Klimaschutz, Sozialstaat oder Migration braucht, sind deutlich divergenter geworden. Wichtigste Themen vor der Wahl waren für 44 Prozent Zuwanderung, Asyl und Migration und für 36 Prozent die Wirtschaftslage. Bei den Gründen für die individuelle Wahlentscheidung spielte dagegen jedoch eine ganze Reihe von Themen auf etwa gleichem Niveau eine Rolle: innere und soziale Sicherheit, Migration und Wirtschaftswachstum, Klimaschutz und Frieden. Die Wählerinnen und Wähler erwarten von der künftigen Bundesregierung Lösungen für Herausforderungen, die hinsichtlich ihrer Zahl und ihrer Größe einem Ausmaß entsprechen, wie es vergleichbar allenfalls in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat.

Drei Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine erleben wir die Aufkündigung der von den westlichen Demokratien propagierten und vermeintlich allgemein akzeptierten regelbasierten Weltordnung, ausgerechnet durch den neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Längst gibt es erhebliche Zweifel an der Verlässlichkeit der wechselseitigen Beistandsverpflichtungen aller NATO-Mitglieder in einem konkreten Konfliktfall. Die eigentliche Dramatik dieser insofern doppelten „Zeitenwende“ besteht in der Aufkündigung der regelbasierten internationalen Ordnung durch eine auf „deals“ statt Verträge gestützte, jeweils bilaterale Vereinbarung. Die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und Europas ist infolgedessen akut und dringend. Dass es dafür künftig deutlich mehr als zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt braucht, ist inzwischen politischer Konsens. Die erklärte Absicht der neuen Koalition, notwendige Verteidigungsausgaben – „whatever it takes“ (Friedrich Merz) – von der Schuldenbremse auszunehmen, ist dafür ein historisches Signal.
Die künftige Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung muss zusammengedacht werden mit der Finanzierung der darüber hinaus auf vielen innenpolitischen Feldern bestehenden Herausforderungen, von deren Bewältigung nicht weniger maßgeblich die Zukunft unseres Landes abhängt.

Deutschland ist längst nicht mehr Europas Wirtschaftsmotor: Nach jeweils einem Minus von 0,3 Prozent 2023 und 0,2 Prozent 2024 wird unsere Wirtschaft wohl auch 2025 bestenfalls stagnieren. Die zunehmend maroden heimischen Infrastrukturen und die überbordende Bürokratie, der Fachkräftemangel, eine übermäßige Steuer- und Abgabenlast sowie die im internationalen Vergleich viel zu hohen Energiepreise sind Gift für unseren Wirtschaftsstandort.

Wir müssen schnellstmöglich wieder wettbewerbsfähiger werden. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen den erforderlichen Strukturwandel als Daueraufgabe und als eine gemeinsame Kraftanstrengung verstehen.

Die Soziale Marktwirtschaft hat unserem Land viele Jahrzehnte soziale Sicherheit und Wohlstand garantiert. Der notwendige Umbau unserer Industrie bedingt sowohl langfristige, verbindliche Zielvorgaben als auch angemessene Freiheiten hinsichtlich der Wege und Instrumente. Unternehmer, Investoren und Verbraucher brauchen Planungssicherheit und zugleich angesichts des rasanten technischen Wandels Offenheit für neue Entwicklungen und Innovationen. Sie sind entscheidend für unsere künftige internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wohlstand für alle erfordert Investitionen in Bildung und Forschung. Wir müssen die Chancen des technologischen Fortschritts nutzen – und zwar schneller und besser als bisher. In zu vielen Bereichen unserer Gesellschaft halten wir mit der überfälligen Digitalisierung nicht Schritt.

Auch die Sozialversicherungssysteme, insbesondere die staatliche Altersvorsorge, müssen reformiert werden, ansonsten droht ein Rekordbeitragssatz von 44 Prozent in dieser Legislaturperiode und von knapp 50 Prozent bis 2040. Intelligente Anreize zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit, mehr Wettbewerb zwischen den Kassen im Pflegebereich und Gesundheitswesen sowie weitere private Vorsorgemöglichkeiten sind notwendig.

Die Liste der Baustellen für unser Land, denen sich die neue Bundesregierung annehmen muss, ist lang. Das muss auch im Koalitionsvertrag deutlich werden, der sich bewusst sein sollte, dass im Verlauf der letzten drei Legislaturperioden ganz andere Themen dominierten als anfangs gedacht und vereinbart. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das auch für die 21. Wahlperiode gilt und weitere Herausforderungen hinzukommen. Definitiv bleiben wird die Aufgabe, unsere Demokratie zu bewahren und vor ihren inneren wie äußeren Feinden zu schützen, wenn es im nächsten großen Wahljahr 2029 kein böses Erwachen geben soll.

„Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht worden. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne.“ So haben die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt es in ihrem 2018 erschienenen Werk Wie Demokratien sterben auf den Punkt gebracht. Wir dürfen nicht zulassen, dass es so weit kommt. Das als Provisorium beschlossene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gehört inzwischen zu den ältesten geltenden Verfassungen der Welt. Es muss gelebt und gegen alle Anfechtungen verteidigt und gesichert werden. Es geht um unsere Demokratie, um unsere Freiheit und um unsere Zukunft! Und das ist unser aller Verantwortung!


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