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Die Verwaltung kann von künstlicher Intelligenz enorm profitieren (gemeinsamer Gastkommentar mit Lars Zimmermann)
WELT online, 21. März 2024

Es läuft nicht rund in unserem Staat - und damit auch nicht in der Wirtschaft und Gesellschaft hierzulande. Unsicherheit und Unzufriedenheit sind weit verbreitet. Die Krisen der jüngsten Vergangenheit wie die Corona-Pandemie oder der russische Angriffskrieg in der Ukraine haben gezeigt, dass staatliche Strukturen gravierende Schwachstellen aufweisen, die die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigen.

Deutschland verliert sich in Komplexität. Vieles geht zu langsam, Zuständigkeiten sind unklar, Entscheidungen werden zu wenig vorausschauend, gar nicht oder falsch getroffen. Das schlägt sich im Alltag unmittelbar nieder - ob beim wochenlangen Warten auf einen Behördentermin, bürokratische Hürden bei der Unternehmensgründung, fehlende Datenbasis beim Aufsetzen politischer Vorhaben oder langwierige Genehmigungsverfahren. Und es wirkt sich auf das Vertrauen in unsere politische Ordnung aus: Wie eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt, ist nur noch gut jeder dritte Deutsche (36 Prozent) mit der tatsächlichen Funktionsweise der Demokratie in Deutschland zufrieden.

Über die politischen Lager hinweg werden regelmäßig Forderungen nach einer umgehenden und umfassenden Modernisierung staatlicher Strukturen und Behörden vorgetragen. Das gilt gerade vor dem Hintergrund eines erhöhten Problemdrucks durch tiefgreifende Veränderungen wie der Digitalisierung und dem sich verschärfenden Systemwettbewerb mit autoritären Entscheidungsmodellen.

Künstliche Intelligenz (KI) ist in diesem Zusammenhang sowohl eine zentrale Herausforderung als auch ein entscheidendes Instrument zur Modernisierung des Staates. Längst nutzen wir selbstverständlich KI-Anwendungen in unserem Alltag - vom Spamfilter über die Kontoführung bis zu Empfehlungsalgorithmen bei Netflix oder Amazon. KI hat sich zu einem zentralen Treiber der Digitalisierung entwickelt und birgt enorme Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft - und auch für unsere Demokratie und Bürokratie.

Der Einsatz von KI wird auch in der staatlichen Verwaltung künftig nicht mehr wegzudenken sein. KI-Anwendungen werden lästige Routine-Tätigkeiten übernehmen und es den Mitarbeitern ermöglichen, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt: beraten, abwägen, entscheiden - modernisieren. Das ist schon allein deshalb notwendig, weil auch die deutschen Verwaltungen nicht genügend qualifiziertes Personal finden: Derzeit sind über 300.000 Stellen im öffentlichen Dienst unbesetzt, und bis 2030 werden 1,3 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den Ruhestand gehen.

Tatsächlich werden KI-Anwendungen schon längst in deutschen Verwaltungen getestet und schaffen realen Nutzen, auch wenn das in der Öffentlichkeit oft nicht wahrgenommen wird: von der digitalen Inklusion durch KI-entwickelte leichte Sprache, Analysetools in der Außenpolitik oder KI-Systemen zur Unterstützung einfacher Verwaltungsprozesse.

Mit Blick auf die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von KI sind - wie bei jeder neuen Technologie - weitreichende, ambivalente und nicht nur vorhersehbare Konsequenzen verbunden. Immer deutlicher wird, dass es gerade mit Blick auf Weiterentwicklungen von KI ethische und rechtliche Regeln braucht, damit aus technologischer Innovation menschendienlicher Fortschritt wird. Gleichzeitig sollten wir nicht der Versuchung der Überregulierung erliegen.

Denn es geht auch um die technologische Souveränität im Systemkonflikt mit Autokratien wie China und Russland. Europa darf nicht schon wieder den Anschluss verlieren und einen Großteil der Wertschöpfung und der damit verbundenen Gestaltungsmacht anderen Ländern überlassen. Jonas Andrulis, Gründer und CEO von Aleph Alpha, einem der wenigen relevanten europäischen Unternehmen in dieser Technologie, hat in diesem Zusammenhang kürzlich in der WELT AM SONNTAG darauf hingewiesen, dass digitale Souveränität nichts weniger bedeute "als die Wahrung unserer Handlungs- und Gestaltungsfreiheit in einer zunehmend interdependenten und digitalen Welt".

Mit Blick auf KI und ihre Anwendungsbereiche in der Verwaltung und anderswo hat die Politik deshalb zu entscheiden, wie die konkurrierenden Interessen und Bedürfnisse einer Gesellschaft zu gewichten sind, wo ethische Grenzen liegen, um dies in demokratisch legitimierte Entscheidungen einfließen zu lassen. Es geht daher zum einen darum, die normativen "Leitplanken" für die Modernisierung und Transformation unserer Gesellschaften insgesamt zu definieren.

Im Rahmen des europäischen AI Act wurde dazu weltweit erstmals ein umfassendes Regelwerk für KI entwickelt. Bewährt es sich in der Praxis, wird das europäische Gesetz den entscheidenden Rahmen für den Einsatz von künstlicher Intelligenz in Europa setzen, um Innovationen zu fördern und gleichzeitig das Vertrauen in KI zu stärken. Ein erster Erfolg, den einzelne nationale Regelungen kaum erreichen können.

Zum anderen geht es darum, KI in staatlichen Institutionen einzusetzen. Das Potenzial ist enorm: Riesige, bisher ungenutzte Datenmengen können mithilfe von KI-Anwendungen erschlossen und genutzt werden. Lewis Platt, der frühere CEO von Hewlett Packard, hat einmal dieses Kernproblem von Organisationen auf den Punkt gebracht: "Wenn HP wüsste, was HP alles weiß, dann wären unsere Gewinne dreimal so hoch." Das gilt im übertragenen Sinne auch für Ministerien und Verwaltungen.

Verwaltung kann Hauptnutznießer von KI werden

KI und sogenanntes Process Mining kann dabei helfen, das institutionelle Wissen leichter zugänglich und schneller abrufbar zu machen. Dabei schlummern in unserer Bürokratie gewaltige Datenschätze. Gelingt es, diese zu heben, kann der öffentliche Sektor ein Hauptnutznießer von KI werden.

Dennoch sollten gerade in der Anfangsphase keine Wunder erwartet werden. Gerade von der Politik werden die Einsatzmöglichkeiten von KI oft kurzfristig überschätzt, die langfristigen Effekte dagegen unterschätzt. Werden überzogene Erwartungen enttäuscht, dann kann es dazu kommen, dass die dringend notwendigen strukturellen Veränderungen für einen flächendeckenden Einsatz der KI nicht angegangen werden. Deshalb ist es wichtig, ein realistisches Erwartungsmanagement zu betreiben.

KI-Anwendungen sind kein ultimatives Allheilmittel. Ohne den grundlegenden Umbau der Organisation in unseren Verwaltungsapparaten sowie langfristige Maßnahmen wie Investitionen, der Nutzung von modernen Infrastrukturen wie Cloud oder des Aufbaus praxisnaher Transparenz- und Bewertungsregeln wird es nicht gelingen, die entsprechenden Voraussetzungen aufzubauen, um die Leistungsfähigkeit des Staates nachhaltig zu stärken.

So hat beispielsweise schon die von der Adenauer-Stiftung eingesetzte Expertengruppe um Thomas de Maizière in ihrem Thesenpapier "Für einen handlungsfähigen deutschen Staat" im Oktober 2021 empfohlen, dass die Steuerung der Digitalisierung ressortübergreifend gebündelt wird. Hier gilt das Prinzip, Staat und Verwaltung plattformfähig zu machen. Digitale Plattformen sind grundlegend für das Bereitstellen von digitalen Lösungen auf der Basis gemeinsamer Standards und Entwicklungsprinzipien. Bisher schenken staatliche Akteure der proaktiven Nutzung von Plattformprinzipien kaum Beachtung.

Partnerschaften mit Firmen auf Augenhöhe

Dabei sind die staatlichen Akteure beim Einsatz von KI auf Tech-Unternehmen angewiesen. Allerdings darf das nicht zu einer einseitigen Abhängigkeit führen. Um auf Augenhöhe agieren zu können, müssen Verwaltungen entsprechende Kompetenzen aufbauen, um Partnerschaften zwischen Staat und KI-Unternehmen wirksam einrichten, steuern und bewerten zu können.

Nur so kann gewährleistet werden, dass staatliche Institutionen die KI-Expertise von Unternehmen ziel- und anwendungsbezogen einbeziehen und in der Lage sind, die Ausgestaltung von KI-Anwendungen abschätzen zu können.

Wie mit jeder neuen Technologie sind mit KI weitreichende Chancen verbunden, wenn wir die Risiken überlegt einhegen. Wir sind technologischen Entwicklungen nicht hilflos ausgeliefert; KI ist wie jede innovative Technologie eine herausfordernde Gestaltungsaufgabe. Wir müssen deshalb eigene Vorstellungen entwickeln, um gestaltungsfähig zu sein, wenn wir uns nicht mit den Tatsachen abfinden wollen, die andere geschaffen haben.

Die konstruktive, ambitionierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die uns KI bietet, sind allemal lohnend. Denn ein kluger Einsatz von KI kann maßgeblich dazu beitragen, einen leistungsfähigeren und technologiefähigen Staat zu ermöglichen; und mit der Verbesserung der Qualität staatlicher Leistungen auch das Vertrauen in die Demokratie wieder stärken.


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