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Karlsruher Rede "Kulturstaat und Bürgergesellschaft - zum Verhältnis von Politik und Kunst"
Karlsruhe, 15. April 2014

„Es affiziert mich alles, was in der Welt vorgeht! Politik, Literatur, Menschen –über Alles denke ich in meiner Weise nach, was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.“ Die erste Hälfte dieses schönen Satzes könnte von mir sein, die zweite Hälfte nicht. Tatsächlich stammt der Satz von Robert Schumann, mit dessen grandioser Klavierfantasie in C-Dur diese akademische Feier zu meiner großen Freude heute Nachmittag begonnen hat. Robert Schumann war mein erster Lieblingskomponist, von denen es inzwischen ein paar mehr gibt. Er war der Schwarm meiner Jugend, dessen Biografie mich ähnlich beeindruckt hat wie seine Kompositionen – mit durchaus ansteckender Wirkung. Ich habe dann früh begreifen müssen – und glücklicherweise rechtzeitig eingesehen –, dass meine Begeisterung für Musik meine Begabung zur Musik deutlich übertrifft. Deshalb mache ich mir nicht durch Musik, sondern durch Reden Luft – wenn es sein muss, oder wenn ich eingeladen werde, wie heute Nachmittag. Für diese Einladung, sehr geehrter Herr Direktor, möchte ich mich herzlich bedanken.

Ich soll und will über Kulturstaat und Bürgergesellschaft sprechen, über das ebenso komplizierte wie nicht auflösbare Spannungsverhältnis von Politik und Kunst. Dazu gibt es beachtliche und besorgniserregende Befunde, erfreuliche und unerfreuliche Entwicklungen. Von beidem will ich reden, auch wenn ich es naturgemäß eher exemplarisch als enzyklopädisch tun kann. Jedenfalls will ich zu diesem Thema ein paar Anmerkungen machen, die vielleicht auch über den heutigen Nachmittag hinaus den einen oder anderen von Ihnen weiter beschäftigen mögen.

Beginnen will ich mit dem schwer bestreitbaren Befund: Es gibt viele große Kulturnationen, aber es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und relativ so viel Mittel einsetzen wie Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland. Da wir im Augenblick eher eine umgekehrte Diskussion führen, gehört zur halbwegs vollständigen Bestandsaufnahme, dass in Deutschland über neunzig Prozent der Kulturausgaben, jedenfalls in einem anspruchsvollen Verständnis von Kultur, aus staatlichen Haushalten aufgebracht werden. Weniger als zehn Prozent kommen von Privatpersonen, Stiftungen, gemeinnützigen Organisationen und Sponsoren, deren Beitrag zur Finanzierung von Aktivitäten und Initiativen hoch willkommen und in vielen Fällen auch völlig unverzichtbar ist, deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der deutschen Kulturszene aber maßlos überschätzt wird.

In absoluten Beträgen stellen die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland etwa 9 bis 10 Milliarden Euro pro Jahr für die Kunst- und Kulturförderung zur Verfügung. Dazu kommen noch einmal etwa 1,5 Milliarden Euro für die auswärtige Kulturpolitik, also für die Vermittlung deutscher Kunst und Kultur im Ausland. Das ist eine Menge Geld – und doch durchaus übersichtlich. Denn umgerechnet auf die Köpfe dieses Landes sind das gerade einmal 130 Euro pro Jahr, die sich übrigens – was ein anderes, schönes Thema zur Eintrübung einer Festveranstaltung wäre – sehr ungleichmäßig über das Land verteilen, mit einem ebenso auffälligen Ost-West- wie Süd-Nord-Gefälle.

Diesem Hinweis auf die Größenordnung will ich einen zweiten Hinweis hinzufügen: Öffentliche Ausgaben müssen sich rechtfertigen, Kulturausgaben auch, ganz selbstverständlich. Zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte sind Kulturetats aber völlig ungeeignet. Dafür ist nämlich ihr Anteil an den Gesamtausgaben zu gering und ihre Bedeutung zu hoch.

Relativ zu den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte betragen die Kulturausgaben in Deutschland 1,7 %. Weniger als ein Prozent beim Bund, der verfassungsrechtlich eigentlich auch keine Zuständigkeit hat, etwas weniger als zwei Prozent bei den Ländern, etwas mehr als zwei Prozent bei den Gemeinden. Der Anteil der Kulturausgaben in dem gerade vorgetragenen Sinn an unserem Brutto-Inlands-Produkt beträgt überschaubare 0,4 %. Das ist keine Größenordnung, bei der Künstler und Kulturfreunde in psychedelische Stimmung geraten, es ist aber eben auch keine Größenordnung, bei der Kämmerer und Finanzminister ernsthaft in Depressionen verfallen müssten.

Kunst- und Kulturförderung sind eine öffentliche Aufgabe, jedenfalls in Deutschland. Das ist nicht so selbstverständlich wie es uns erscheint, weil es bedeutende Länder gibt, die aus durchaus beachtlichen Gründen Kunst- und Kulturförderung zwar für wünschenswert, ganz sicher aber nicht für eine öffentliche Aufgabe halten – mit handfesten Folgen für die Struktur der jeweiligen Kulturlandschaft. Das in Deutschland im Kern unangefochtene Verständnis von Kultur als einer Gemeinschaftsaufgabe öffentlicher Hände würde es übrigens in dieser Form vermutlich nicht geben, wenn es nicht durch die komplizierte deutsche Geschichte über Jahrhunderte so gewachsen wäre, in einer beinahe unübersehbaren Zahl von Klein- und Kleinststaaten, die sich erst spät zum Nationalstaat vereint haben. Ökonomisch gesprochen ist der deutsche Kulturstaat gewissermaßen der „Windfall-Profit“ der deutschen Kleinstaaterei. Ohne letztere würde es diesen Kulturstaat so gar nicht geben.

Das Selbstverständnis als Kulturstaat bedeutet aber nicht, dass die Zuständigkeit für Kunst- und Kultur in erster Linie beim Staat zu suchen und dort verankert wäre. Aber es kommt in diesem Selbstverständnis die über Jahrhunderte gewachsene Überzeugung zum Ausdruck, dass die Förderung von Kunst und Kultur ganz wesentlich eine öffentliche Aufgabe ist – wodurch sich Deutschland in seinem Selbstverständnis in mancherlei Weise von anderen bedeutenden Staaten und Gesellschaften innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus unterscheidet. Und weil es so ist – und übrigens auch nur so lange, wie das so bleibt –, ist die flächendeckende Versorgung mit Konzerten, Theatern, Museen und Bibliotheken in Deutschland besser als in irgendeinem anderen Land der Welt.

Man könnte zu dieser von vielen Kunst- und Kulturfreunden weltweilt immer wieder gerühmten, bewunderten, nicht selten auch beneideten deutschen Kunst- und Kulturlandschaft jetzt viele eindrucksvolle Zahlen vortragen. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, dass wir in Deutschland nach den Datenbanken des deutschen Musikinfomationszentrums allein über 10.000 Initiativen und Institutionen im Musikbereich haben. Deutschland ist das Land mit der weltweit größten Anzahl professioneller Musiker, Musikpädagogen, Laiengruppierungen, Musikstudenten, Musikschülern, übrigens auch Musikkritikern, denen Georg Kreisler in seinem einschlägigen Titel einen sprachlich wie musikalisch schwer überbietbaren Ausdruck verschafft hat.

Es gibt in Deutschland gegenwärtig über 130 öffentlich getragene Sinfonieorchester, über achtzig Musiktheater – man muss lange laufen auf diesem Globus, um einen ähnlichen Bestand zu finden. Allerdings gehört zur ganzen Wahrheit: In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der Planstellen in deutschen Orchestern um etwa zwanzig Prozent zurückgegangen. Das hat nicht nur, aber insbesondere mit der „Flurbereinigung“ in der früheren DDR zu tun, wo in bemerkenswert kleinen Regionen und Städten ein erstaunlich großes Angebot an professionellen Ensembles bestanden hatte, mit denen wiederum – das muss man fairerweise einräumen – die Finanz- und Wirtschaftskraft der jeweiligen Städte und/oder Länder nicht korrespondierten.

„Orchesterlandschaft“ gehört zu den schönen deutschen Worten, die sich schwerlich in eine andere Sprache übersetzen lassen – auch deshalb, weil sich zur deutschen Orchesterlandschaft weltweit kein Pendant findet. Deutschlands Orchesterlandschaft – und da befinde ich mich jetzt auf der virtuellen Brücke zwischen Errungenschaften und Besorgnis erregenden Entwicklungen – blüht auch und gerade dank unserer fabelhaften Rundfunksinfonieorchester, die es anderswo auch nicht gibt (jedenfalls nicht so und schon gar nicht in dieser Menge und dieser Qualität) und deren Existenz sich aus dem Kulturauftrag der gebührenfinanzierten Sender herleitet.

Nun soll wider allen künstlerischen Empfehlungen und kulturpolitischen Verantwortlichkeiten ab 2016 eines dieser Orchester verschwinden. Die Fusion des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg und des Radiosinfonieorchesters Stuttgart ist beschlossene Sache – von Aufsichtsgremien, die zweifellos zuständig sind, aber offensichtlich nicht hinreichend kompetent. Mir ist jedenfalls aus jüngerer Zeit von keinem öffentlich-rechtlichen Sender, der das Privileg der Gebührenfinanzierung seinem gesetzlichen Informations- und Bildungsauftrag verdankt, eine ähnlich unsensible Fehlentscheidung und ein so verheerendes kulturpolitisches Signal in Erinnerung. Dass in der Musikwelt das Entsetzen groß und einhellig ist, kann nicht wirklich überraschen. Als bekennender Musikliebhaber und öffentlich-rechtlicher Gebührenzahler schließe ich mich diesem Entsetzen ausdrücklich an.

Die beschlossene Fusion ist mindestens unter zwei Aspekten fatal: Erstens geht, wie immer in solchen Fällen, ein Stück kultureller Vielfalt verloren, wenn zwei traditionsreiche, auch international renommierte Klangkörper zwangsweise verschmolzen werden. Mir ist auch kein einziges Beispiel bekannt, dass eine Orchesterfusion die Verbesserung der Qualität zu Folge gehabt hätte. Auf die Idee kann nur jemand kommen, der selten ein Orchester gehört und sicher nie in einem solchen gespielt hat. Dabei muss man im konkreten Fall im Blick haben, dass es sich unter den allesamt hervorragenden deutschen Rundfunk-Sinfonieorchestern um zwei Klangkörper mit ausgesprochen individuellem Charakter und Profil handelt, darunter mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg um das national herausragende und auch international hoch anerkannte Ensemble für zeitgenössische Musik. Mehrere hundert Werke zeitgenössischer Komponisten hat dieses Orchester uraufgeführt, und ich will gar nicht wissen, wie viele dieser Kompositionen nie aufgeführt worden wären, wenn es dieses Orchester nicht gegeben hätte. Nun soll es ausgerechnet in dem Jahr, in dem es siebzig Jahre alt wird, als eigenständiger Klangkörper aufhören zu existieren, obwohl alle Sachverständigen geradezu beschwörend erklären, dass es in seiner besonderen Funktion unersetzlich ist.

Der zweite unheilvolle Aspekt dieser Fusion ist die Tatsache – und ich soll über das Verhältnis von Politik und Kunst reden –, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender (also keine private Anstalt) ganz bewusst ausgerechnet seine Orchesterförderung zurückfährt. Nun kann man durchaus darüber streiten, ob die Unterhaltung von Orchestern zum Kerngeschäft von Rundfunkanstalten gehört –interessanterweise streiten die Gremien nie darüber, ob die Unterhaltung zu ihren Kerngeschäften gehört. Etwa fünf Millionen Euro sollen laut Berichten mit der Fusionierung beider Orchester eingespart werden. Das ist gemessen am Gesamtbudget für den Sender nicht viel, für das Orchester aber existentiell. Die Entscheidung ist nicht nur, wie immer in solchen Fällen, ein Debakel für die betroffenen Orchester, die Musiker, die Städte, in denen die Orchester beheimatet sind, die Konzertbesucher; auch für die Sender sind die Folgend schwerwiegend, und ich fürchte, dass die Konsequenz der Entscheidung in den Gremien nicht bis zu Ende gedacht wurde. Die drastische Kürzung in einem Sektor, der die Gebühren rechtfertigt, verschärft nämlich die ohnehin vorhandenen Legimitationsprobleme der öffentlich-rechtlichen Sender – zumal in anderen Bereichen, in denen sich jedenfalls mir der besondere Bezug der Rundfunkanstalten zu ihrem gesetzlichen Auftrag nicht in gleicher Weise erschließt, immer wieder erstaunliche, sehr viel höhere Summen ausgegeben werden. Zweifellos spricht die Übertragung von Sportereignissen, von Unterhaltungsformaten oder der unzähligen Talk-Shows eine größere Menge von Zuschauern an. Für die gibt es aber bei den privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten hinreichend Angebote. Deshalb finden künstlerisch anspruchsvolle Literatur-, Theater- oder Musikproduktionen entweder im gesetzlich verankerten öffentlich-rechtlichen Rundfunk statt oder gar nicht. Wonach unterscheidet sich eigentlich der Südwestfunk von anderen Rundfunk- und Fernsehanstalten, wenn er nicht irgendein, sondern ein Orchester aufgibt, das es nirgendwo sonst in Deutschland gibt?

Ich verkenne weder die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und die damit verbundenen Sparmaßnahmen noch die veränderte Wettbewerbslage der öffentlich-rechtlichen Sender, deren Programmangebote längst immer stärker von den Privaten präjudiziert werden. Die Programmgestaltung wird immer stärker durch die Quote bestimmt, immer seltener durch einen besonderen Kultur- und Bildungsauftrag, den die öffentlich-rechtlichen Sender aber gesetzlich haben.

Was ich den Rundfunkanstalten empfehle zu bedenken ist: Je weiter ein öffentlich-rechtlicher Sender sich von seinem im Staatsvertrag geregelten Auftrag entfernt, je weniger er sich vom üblichen Massenangebot unterscheidet, desto dünner wird die Rechtfertigung für Gebühren. Längst ist eine Überprüfung überfällig, inwieweit der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Kulturauftrag noch in seiner ganzen Breite nachkommt. Und es soll, Herr Oberbürgermeister, in Karlsruhe eine Einrichtung geben, die für diese Art von Überprüfungen befugt und in der Lage ist. Jedenfalls – und das sage ich nicht nur mit besonderer Sympathie für Orchester im allgemeinen und Rundfunkorchester im Besonderen – sehe ich mit Unverständnis, wie die öffentlich-rechtlichen Anstalten zunehmend dabei sind, genau den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen.

Dennoch mache ich mir über den Bestand der deutschen Kunst- und Kulturszene keine besonderen Sorgen, weil sie so vital, so stabil, so historisch gewachsen ist, dass sie manche Fehleinschätzung und Verirrung überstehen wird. Nach meiner festen Überzeugung ist die deutsche Kulturlandschaft weniger in ihren Blüten bedroht als vielmehr in ihren Wurzeln. Was notleidend geworden ist, ist der Zustand kultureller Bildung in diesem Lande. Wenn wir mehr Zeit hätten, und es sich heute Nachmittag nicht eigentlich um eine Festveranstaltung handeln würde, wäre auch zu diesem Thema manch betrüblicher Befund vorzutragen. Ich denke etwa an die Fehlzeiten musisch-ästhetischer Bildung in unserem öffentlich-rechtlichen Schul- und Bildungssystem, an die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der erleichtert zur Kenntnis genommen wird, dass nach mehreren Jahren, in denen überhaupt kein Musikunterricht erteilt werden konnte, dieser nun fachfremd erteilt wird – weil für diesen Teil der Ausbildung nicht die gleiche Professionalität als selbstverständliche Voraussetzung reklamiert wird, die für jeden Sprachunterricht, für jede technische oder naturwissenschaftliche Unterweisung für völlig unverzichtbar gehalten würde.

Meine Damen und Herren, der Staat ist nicht für Kunst und Kultur zuständig, sondern für die Bedingungen, unter denen sie stattfinden und sich entfalten können. Und das ist eben nicht dasselbe. Die wichtigste Aufgabe des Staates gegenüber Kunst und Kultur ist die Sicherung freier Gestaltungs- und Entfaltungschancen. Welche Gedichte und Romane geschrieben, welche Theaterstücke in welchen Kulissen wie inszeniert werden, welche Bilder gemalt und welche Skulpturen geschaffen werden, welche Ausstellungen konzipiert werden, geht die Politik nichts an. Politik hat mit Urheberrecht zu tun, nicht mit Literatur, mit Künstlersozialversicherung, nicht mit bildender Kunst. Der Zweck der Kulturpolitik ist Kultur – nicht Politik.

Ich habe deswegen mehrfach zur Frustration mancher Kollegen darauf hingewiesen, dass die wahrscheinlich wichtigste Qualifikation eines Kulturpolitikers die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit ist, die Souveränität, hartnäckig und fröhlich daran zu arbeiten, dass andere die notwendigen Bedingungen für die Entfaltung ihrer Kreativität haben.

Sie werden bei der Ankündigung des Themas geahnt haben: Einfach ist das Verhältnis von Politik und Kunst sicher nicht, wird es auch nie sein. Politik und Kunst sind keine natürlichen Zwillinge. Ihr Verhältnis gilt allgemein als schwierig. Es muss geradezu gespannt sein, um nicht unter Verdacht zu geraten. Völlig unabhängig von wechselseitigen Sympathien oder Antipathien beteiligter Künstler oder Politiker, die es auch geben soll, geht es im Kern um die Unvereinbarkeit der jeweiligen Orientierungen: Die Politik muss zu Kompromissen bereit und in der Lage sein, die Kunst nicht. Die Kunst riskiert mit der Bereitschaft zum Kompromiss ihre innere Legitimation, welche die Politik umgekehrt verspielt, wenn sie im ideologischen Eifer ihre Fähigkeit zum Konsens durch Relativierung von Interessen verliert. Politik ist nicht mit ästhetischen Kriterien zu organisieren. Kunst dagegen kann nicht nach politischen Gesichtspunkten stattfinden. Bemühungen, sich über diese eigenen Gesetzlichkeiten hinwegzusetzen, führen fast zwangsläufig zu offener oder verdeckter Zensur, Propaganda oder Protektion, für die es auch und gerade in der jüngeren deutschen Geschichte viele abschreckende Beispiele gibt.

Fast zum Schluss will ich Ihnen eine Beobachtung nicht ersparen, die nicht immer gleich auffällt, bei genauem Hinsehen jedoch schwer zu übersehen ist: Nirgendwo, in keinem anderen Bereich der Gesellschaft, ist die Distanz zum Staat so groß und so demonstrativ und zugleich die Erwartung der Alimentierung durch den Staat so ausgeprägt wie im Bereich von Kunst und Kultur. Das scheint intellektuell weder besonders originell noch moralisch von bestechender Größe, es ist aber eine weit verbreitete Attitüde. Worauf es aber in diesem Zusammenhang ankommt: Sie ist berechtigt! Die Kunst hat einen Anspruch gegenüber dem Staat, jedenfalls dann, wenn der ein Kulturstaat sein will, nicht aber der Staat gegenüber Kunst und Kultur. Mit anderen Worten: Der Kunst kann der Staat egal sein, dem Staat die Kunst nicht. Und die Kultur schon gar nicht!

Von Wolfgang Rihm, den man in dieser Stadt und in diesem Saal besonders gerne zitiert, gibt es einen ähnlich schönen Satz wie den von Robert Schumann, mit dem ich begonnen habe. Er lautet: „Wenn es eine Tradition gibt, der ich mich angehörig fühle, so ist es diese: Kunst als Freiheit zu verstehen. Aus Freiheit entstanden, zur Freiheit verpflichtet.“ Das, meine Damen und Herren, ist präzise der Zusammenhang zwischen Kultur, Staat und Bürgergesellschaft. Jedenfalls sollte es der Zusammenhang sein. Eine freiheitliche Gesellschaft benötigt sowohl eine demokratisch gewählte Regierung und ein politisch verantwortliches Parlament, als auch eine aktive Bürgergesellschaft. Das jeweils Eine kann das jeweils Andere nicht ersetzen. Wenn diese wechselseitige Unverzichtbarkeit in der Verbindung und Zuordnung von Bürgerengagement und verfassten demokratischen Institutionen im Allgemeinen zutrifft, dann gilt dieser Zusammenhang in besonderer Weise für den Bereich von Kunst und Kultur. Kunst als Freiheit verstanden. Aus der Freiheit entstanden. Und zur Freiheit verpflichtet.


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