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Festrede anlässlich der Verleihung der Alexander-Rüstow-Plakette an Prof. Dr. dres. h.c. Paul Kirchhof
Am 30. Oktober 2013

Sehr geehrter Herr Professor Hasse,
Herr Professor Starbatty,
Herr Prorektor,
Herr Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts,
verehrter, lieber Herr Professor Kirchhof,
meine Damen und Herren!

Für die Einladung zu dieser heutigen Veranstaltung möchte ich mich in aller Form herzlich bedanken, zumal ich weder Jurist noch Ökonom bin und erstaunlicherweise dennoch reden darf. Dabei, Herr Starbatty, macht man ja gelegentlich die Erfahrung, dass die Freude auf angekündigte Reden noch größer ist als die Begeisterung über die Reden, die dann tatsächlich gehalten werden. Jedenfalls habe ich die Einladung zur Mitwirkung an dieser heutigen Veranstaltung besonders gerne angenommen. Zum Einen ist sie willkommene Unterbrechung von Koalitionsverhandlungen, was als Motivation alleine fast ausreichen könnte. Zum Anderen ist es Ausdruck meines persönlichen Respekts für einen Preisträger, mit dem mich nicht nur manche eher persönlichen Interessen, Orientierungen und Überzeugungen verbinden, sondern auch eine andere, öffentliche Erfahrung, nämlich die gemeinsame Zugehörigkeit zu dem vorhin schon genannten Schattenkabinett des Wahlkampfjahres 2005.
Dieser Wahlkampf, in dem wir damals Arm in Arm, Seite an Seite miteinander gefochten und gestritten haben – in unterschiedlichen Aufgaben, aber mit ähnlichen Zielvorstellungen –, hat nach einem denkbar knappen Wahlergebnis dann tatsächlich zu einem Regierungswechsel geführt. Wir sind aber beide nicht in die Regierung eingetreten, die dann gebildet wurde, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich will jedoch nicht nur aus meiner subjektiven Wahrnehmung, sondern sicher auch aus der vieler – damals wie bis heute – aktiv tätigen Kolleginnen und Kollegen hinzufügen, dass das Steuerkonzept, für das Sie, lieber Herr Kirchhof, damals geworben haben, sich mit diesem Wahlkampf und seinem Ergebnis nachweislich nicht erledigt hat, sondern mit einer bemerkenswerten Hartnäckigkeit nahezu jede steuerpolitische Grundsatzdebatte begleitet. Mir würden Beispiele von Mitgliedern von Schattenkabinetten einfallen, die später Minister wurden, von denen sich das wiederum nicht behaupten lässt; und die Frage, welche dieser beiden Fallkonstellationen man eigentlich vorziehen sollte, beantwortet sich fast von selbst.

Meine Damen und Herren, Paul Kirchhof ist kein Politiker, aber einer, der zweifellos Politik gemacht hat. Und nicht nur unter seinen juristischen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere auch in der einschlägigen, fachlich orientierten Begleitung der Medien wird er aus guten Gründen für einen der politisch einflussreichsten Juristen der Nachkriegszeit gehalten, der mit seinen Beiträgen zu wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die sozialpolitische Geschichte dieser Republik ganz wesentlich beeinflusst und geprägt hat. Theo Waigel, der, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, der Festredner der letzten Preisverleihung war, hat Paul Kirchhof deswegen einmal als den „teuersten Richter der Republik“ bezeichnet und dabei auf die persönliche Handschrift hingewiesen, die Paul Kirchhof als Berichterstatter für die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zur Vermögenssteuer, zum Familienlastenausgleich, aber auch zum Länderfinanzausgleich ausgezeichnet hat, und deren Folgen seit dem Erlass dieser jeweiligen Entscheidungen natürlich nicht nur in der juristischen Literatur zu beobachten sind, sondern auch in den Bundeshaushaltsplänen.

Zu unseren gemeinsamen Orientierungen gehört das ausgeprägte Interesse an ethischen Fragestellungen und die Überzeugung ihrer Unverzichtbarkeit auch und gerade in liberalen, säkularen Gesellschaften – verbunden mit der Erfahrung, dass ethische Fragestellungen mit juristischen wie politischen Herausforderungen zwar ganz offenkundig Schnittstellen haben, aber keineswegs immer und schon gar nicht automatisch konvergieren, was die Notwendigkeit unterstreicht, sie ergänzend zur Geltung zu bringen.

Vor inzwischen gut 100 Jahren hat Max Weber mit der ihm eigenen, Maßstab setzenden Prägnanz die inneren Zusammenhänge zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus‘ analysiert und öffentlich dargelegt. Seitdem hat sich, freundlich formuliert, der Geist des Kapitalismus‘ noch dynamischer entwickelt als die protestantische Ethik. Jedenfalls haben wir sowohl in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wie in den ersten Jahren dieses immer noch jungen 21. Jahrhunderts eine Reihe von interessanten, nicht selten besorgniserregenden Erfahrungen über die Verselbstständigung von Wettbewerbssystemen im Allgemeinen und von Finanzmärkten im Besonderen gemacht. Die Turbulenzen, die wir beobachtet und durchgemacht haben, haben nicht nur Bilanzen ruiniert, sondern auch Biographien. Die Verirrungen und Verfehlungen, die ganz offensichtlich stattgefunden haben, fanden nicht nur einen statistischen Niederschlag. Deshalb kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass Wirtschaft wie Politik Anlass zu einer nüchternen Bestandaufnahme und insbesondere zu einer neuen und gründlichen Beantwortung der Fragen haben, ob und welche Veränderungen wir für die Zukunft dringend brauchen.

Paul Kirchhof hat zu diesem Komplex in einem seiner zahlreichen Interviews schon vor einer Reihe von Jahren, im Mai 2009, diesen klugen Hinweis gegeben: „Wir haben eine gute Chance, die gegenwärtige Krise zu bewältigen. Doch nicht indem wir die Krise finanzieren und damit verstetigen, sondern indem wir zur verantwortlichen Freiheit, zum lauteren Wettbewerb, zu einem Markt mit persönlicher Haftung zurückkehren“. Es geht ganz offensichtlich auch und wesentlich um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen wir ethische Orientierungen zur Grundlage ökonomischen Handelns machen können und müssen – was im Übrigen bei der Grundlegung eines gründlich neuen Systems einer Nachkriegswirtschaftsordnung die zentrale Frage der Freiburger war. Diese Frage ist keineswegs banal. Schon die Frage, ob es so etwas wie Wirtschaftsethik überhaupt gibt, wird von verschiedenen Menschen in unterschiedlich anspruchsvoller Weise durchaus zögerlich beantwortet. Von Karl Kraus, dem großen Spötter und Satiriker, gibt es die knappe Bemerkung zu einem Wirtschaftsstudenten, der ihm mitgeteilt hatte, er studiere Wirtschaftsethik: „Junger Freund, dann entscheiden Sie sich gefälligst, was Sie studieren wollen. Entweder Ethik oder Wirtschaft.“ Auch bei Niklas Luhmann, dem großen Systemtheoretiker, lässt sich eine beachtliche Skepsis darüber finden, ob es so etwas wie Wirtschaftsethik überhaupt geben könne. Er schrieb in einem seiner zahlreichen, natürlich sehr viel anspruchsvolleren Essays: „Meine Vermutung ist, dass die Wirtschaftsethik zu der Sorte von Erscheinungen gehört, wie auch die Staatsraison und die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten müssen, dass sie gar nicht existieren.“ Das ist nicht nur hübsch formuliert. Es ist eine eher bittere Beobachtung, für die er im Übrigen den nach seinem Tode angefallenen empirischen Befund gar nicht mehr hat miterleben müssen. Manches spricht dafür, dass wir in Kenntnis der Erfahrungen der letzten Jahre Anlass zu der Vermutung haben, dass inzwischen der Glaube an die Existenz der englischen Küche wesentlich weiter verbreitet ist als das Vertrauen in das Wirken der Staatsraison – vom Vorhandensein ethischer Orientierungen bei wirtschaftlichem Handeln gar nicht zu reden.

Wir sprechen also über ein ernsthaftes Problem. Ein Problem, über dessen Dringlichkeit nach meiner Überzeugung kein wirklicher Zweifel bestehen kann. Im Unterschied zur Wirtschaftsethik, bei der Zweifel angemeldet werden können, ob sie überhaupt existiert, wird es keinen Zweifel darüber geben, dass es Globalisierung gibt – nicht nur als Begriff, sondern als die moderne Wirklichkeit prägender Sachverhalte. Wir leben in Zeiten der Globalisierung. Ich will jetzt gar nicht die völlig unerhebliche Frage beantworten, ob es sich bei der Globalisierung wirklich um eine prinzipiell neue Rahmenbedingung handelt oder, wie manche Wirtschaftshistoriker meinen, eigentlich nur um die Verlängerung eines seit Beginn der Menschheitsgeschichte erkennbaren Bedürfnisses, die jeweils vorgefundenen Grenzen zu überwinden und in immer neueren, größeren Zusammenhängen miteinander zu kooperieren. Jedenfalls kann nicht übersehen werden, dass die Möglichkeiten, das Ausmaß und das Tempo der globalen Kooperation mit ihren historischen Vorläufern völlig unvergleichbar sind. Dazu trägt insbesondere eine Informationstechnologie bei, die uns im Unterschied zu allen früheren Phasen der Menschheitsgeschichte in die Lage versetzt, prinzipiell an jedem Platz der Welt alle verfügbaren Daten gleichzeitig verfügbar zu haben. Dass davon nicht nur Geheimdienste mit einem bemerkenswerten Eifer Gebrauch machen, haben wir auch vor der aufgeregten Berichterstattung der letzten Tage längst registrieren können und müssen. Dies mindestens gab es früher nie: dass alle für relevant gehaltenen Informationen nicht irgendwo, sondern prinzipiell überall gleichzeitig verfügbar waren. Es hat in der Vergangenheit ja gelegentlich nicht nur gewisse Zeit, sondern manchmal Jahre, in Einzelfällen Jahrzehnte gebraucht, bis eine vorhandene Information, eine vorhandene Technologie, ein vorhandenes Produkt andere Länder oder Kontinente erreicht hat – mit den entsprechend verzögerten Reaktionen, die dies auslöste. Der Umstand, dass eine relevante Information heute prinzipiell überall auf der Welt gleichzeitig verfügbar ist, hat insofern die Rahmenbedingungen für ökonomisches wie politisches Handeln fundamental verändert, und das hat dazu beigetragen, dass wir heute in einer Welt leben, in der – zugespitzt formuliert – nach wie vor Nationalstaaten existieren und handeln, aber keine Nationalökonomien mehr bestehen.

Volkswirtschaften gibt es nicht mehr, oder es gibt sie nur noch als Recheneinheiten, aber eben nicht mehr als autonome, wirkliche Handlungsfelder. Betriebe, Unternehmen oder Banken, die von vornherein durch eigene Selbstbeschränkung oder durch gesetzliche Bestimmungen auf das Handlungsfeld begrenzt wären, das sich lediglich auf den Zuständigkeitsbereich eines bestimmten politisches Systems – in der Regel des Nationalstaates – beschränkt, operierten gewissermaßen mit amputierten Gliedmaßen. Sie wären unter den gründlich veränderten Rahmenbedingungen ökonomischen Handelns nicht wettbewerbsfähig. Nirgends, in keinem anderen Sektor unserer Volkswirtschaft, sind die Folgen der Verfügbarkeit von Daten in Echtzeit massiver aufgetreten und nachhaltiger spürbar als auf den Finanzmärkten. Kein anderes ökonomisches Produkt kann mit geringerem physischem Aufwand transportiert werden als Finanzprodukte. Sowohl was die Finanzprodukte als solche wie was den Handel mit ihnen betrifft, bedarf es unter den heute verfügbaren Technologien nur noch eines denkbar simplen Computerklicks, um ein Geschäft zu tätigen, in buchstäblich beliebigen Größenordnungen – einschließlich der souveränen Entscheidung über die Frage, an welchem Ort dieses Geschäft rechtswirksam am zweckmäßigsten stattfindet; oder genauer müsste man wohl sagen, wo es am besten nicht stattfindet, um sich den rechtlichen Anforderungen ganz oder weitgehend zu entziehen, die an diesem bestimmten Platze gelten.

Das kann man für eine riesige Errungenschaft halten und vielleicht ist es auch eine, aber es ist sicher nicht nur eine Errungenschaft, sondern mindestens so sehr ein gigantisches Problem. „Wer handelt, der haftet“, sagt Paul Kirchhof und meint das vermutlich auch so. Noch schöner wäre, wenn es so wäre. Mit Blick auf die Verselbstständigung der Finanzmärkte ist das beinahe so etwas wie das verzweifelte Rufen im dunklen Wald, weil es nirgendwo einfacher möglich ist, sondern auch nirgendwo regelmäßiger stattfindet, dass zwischen dem Handeln auf der einen und der Haftung für die Folgen auf der anderen Seite ein so dürftiger – falls überhaupt noch – Zusammenhang besteht, wie wir das auf Finanzmärkten zunehmend beobachten können.

Ich will für die kleine Minderheit unter Ihnen, die mit diesen Fragestellungen ohnehin nicht mindestens so gut vertraut ist wie ich, die Veränderungen in den Größenordnungen mit zwei Zahlenrelationen verdeutlichen. Zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts –ziemlich genau dem Zeitpunkt, an dem aus unterschiedlichen Gründen zunächst in den angelsächsischen Ländern, dann in der westlichen Welt die Liberalisierung der Finanzmärkte begonnen hat – betrug das Weltsozialprodukt etwa 23 Billionen US-Dollar. Die Summe der – wie wir heute vornehm formulieren – synthetischen Finanzprodukte, die weder etwas mit Gütern noch mit Dienstleistungen zu tun haben und auch nicht mit deren Finanzierung – betrug damals rund zwei Billionen US-Dollar. Mit anderen Worten: Die virtuelle Wirtschaft machte etwa ein Zehntel der realen Wirtschaft aus. Heute, 20 Jahre später, hat sich das Weltsozialprodukt auf etwa 65 Billionen US-Dollar verdreifacht und die synthetischen Finanzprodukte haben sich im Volumen verdreihundertfacht. Sie betragen etwa 600 Billionen US-Dollar. Rein vom Volumen her macht die Realwirtschaft noch etwa ein Zehntel der virtuellen Wirtschaft aus. Man muss nicht viele Semester Volkswirtschaft oder Jurisprudenz studiert haben, es reichen die Grundrechenarten, um eine lebensnahe Vorstellung von den Hebelwirkungen zu bekommen, die sich mit dieser Verschiebung der Relationen natürlich ergeben. Diese Verschiebung setzt für das ökonomische Handeln wie für die Politik völlig neue Rahmenbedingungen. Insofern reden wir über ein Thema von hoher operativer Relevanz und Dringlichkeit sowohl für die Wirtschaft und möglicherweise noch mehr für die Politik.

Nun muss man sich, wenn man sich mit der Frage nicht nur als Ansage, sondern als Programm auseinander setzen will, ob und welche Konsequenzen denn daraus gezogen werden könnten, nüchtern mit den Handlungsmöglichkeiten auseinander setzen. Das muss mit der Einsicht beginnen, dass die Globalisierung ein irreversibler, neuer Zustand ist. Ein kluger französischer Publizist hat schon vor ein paar Jahren sehr prägnant formuliert: „Globalisierung ist für die Wirtschaft das, was die Schwerkraft für die Physik ist“. Punkt. Man muss sie nicht schön finden, aber es empfiehlt sich zur Kenntnis zu nehmen, dass sie stattfindet – übrigens auch dann stattfindet, wenn man sie nicht schön findet. Was wiederum die Frage aufdrängt, ob es unter Berücksichtigung dieser Irreversibilität nicht im Zweifelsfall klüger ist, sich an der Gestaltung der Bedingungen zu beteiligen, unter denen sie stattfindet, als sie wie ein Naturereignis über sich stattfinden zu lassen. Die Frage ist, ob wir in ähnlicher Weise die dramatische, spektakuläre und – wie ich persönlich finde – verheerende Auseinanderentwicklung von Realwirtschaft und virtueller Wirtschaft mit der zunehmenden Verselbstständigung von Finanzmärkten unter den bis vor kurzem gegebenen Bedingungen der Deregulierung auch als irreversibel unterstellen müssen und dürfen. Diese Auffassung wird im Übrigen mit beachtlichen Gründen durchaus vertreten. Ich vertrete sie nicht. Ich plädiere im Gegenteil mit Nachdruck dafür, aus den vorhandenen Erfahrungen nicht nur larmoyante Anmerkungen für die Geschichtsbücher entstehen zu lassen, sondern operative Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen – mit der praktischen Folge der Notwendigkeit einer Re-Regulierung von Märkten. Da könnten wir übrigens die ganze Riege der vorhin genannten neoliberalen Säulenheiligen der Reihe nach wieder gut gebrauchen. Und weil diese Prognose eh nicht wiederlegbar ist, behaupte ich jetzt mal: Sie wären auch alle dabei, wenn es um die Beantwortung dieser Frage ginge, und niemand von ihnen würde uns ernsthaft empfehlen, dies als schicksalhaft auf sich beruhen zu lassen, sondern sie würden mit unterschiedlichen Akzenten die Dringlichkeit der Setzung von Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Wettbewerbssystem reklamieren, weil das sich selbst überlassene System ganz offenkundig aus den Fugen geraten ist.

Ich fühle mich übrigens mit der Bemerkung, sich um eine solche Re-Regulierung ernsthaft zu bemühen, durch manche selbstkritischen Bemerkungen aus dem Bankensystem selbst durchaus ermutigt – die mir noch besser gefallen hätten, wenn sie von langjährigen Vorstandsvorsitzenden bedeutender deutscher Banken zu ihren Amtszeiten nicht nur vorgetragen, sondern auch wahrgenommen worden wären. Da finden sich jetzt in Interviews so goldrichtige Fragen wie diese: Brauchen wir all diese Finanzprodukte überhaupt? Sind sie nicht nur für ihre Schöpfer, sondern auch für ihre Kunden hinreichend transparent? Sind die Finanzmärkte unter diesen Bedingungen überhaupt effizient organisiert? Entstehen neben den beabsichtigten nicht auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen, die sowohl die Glaubwürdigkeit des Systems wie auch seine Effizienz strapazieren? Wenn manche dieser Fragen früher gestellt und in der angedeuteten Richtung beantwortet wären, wären uns nicht nur manche Turbulenzen erspart geblieben, sondern auch manche verheerenden Flurschäden, die es in der Architektur nicht nur unserer Volkswirtschaft und der europäischen Gemeinschaft, sondern auch in gesellschaftlichen Strukturen als indirekte Folgewirkung gegeben hat. Im Übrigen gibt es – jedenfalls nach meinem Eindruck – trotz dieser zunehmend selbstkritischen Beschäftigungen auch im Bankensystem selbst noch immer eine Verdrängung – vielleicht auch Tabuisierung – der Frage, ob das, was hier völlig unabhängig von Gütern und Dienstleistungen an Finanzakrobatik stattfindet, wirklich etwas mit Wertschöpfung zu tun hat. Nach meinem Eindruck findet hier nicht Wertschöpfung statt, sondern die Simulation von Wertschöpfung, die nur so lange stabil bleibt, wie die Einbildung hält. Sobald die Einbildung kollabiert, kollabiert das Produkt – was wiederum einleuchtet, weil es keine Substanz hat. Das ist die verheerende Verselbstständigung des Effekts, dass Geld aus einem Instrument zur Beförderung ökonomischer Prozesse zu einem Selbstzweck geworden ist.

Nun mag der eine oder andere von Ihnen denken: Das ist ja alles nicht ganz falsch, aber der soll jetzt gefälligst die Frage beantworten, welche Schlüsse denn die Politik daraus zieht – wenn er denn schon meint, dass dies nicht hinzunehmen, sondern mit Schlussfolgerungen zu versehen sei. Da ich eigentlich nach einer halben Stunde aufhören sollte, Herr Starbatty, hätte ich jetzt eine günstige Ausstiegsmöglichkeit unter Hinweis auf die abgelaufene Redezeit, vermute aber, dass wenn ich es mit dieser Begründung täte, dies eher für Feigheit vor dem Freund als für das liebenswürdig präzise Einhalten des Zeitmanagements gehalten würde. Für die Politik, meine Damen und Herren, ergibt sich aus dieser Situation ein beinahe unlösbares Dilemma. Die Politik ist nach wie vor selbst unter Berücksichtigung der beachtlichen Entwicklungen und Errungenschaften der Europäischen Union in Form von Nationalstaaten organisiert. Die europäische Gemeinschaft ist kein Staat, sondern eine Gemeinschaft von Staaten, die ihr zunehmend staatsähnliche Kompetenzen übertragen und gleichzeitig mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit darauf bestehen, dass sie kein Staat sei und bitteschön auch keiner werden dürfe. Das wäre ein schönes Thema für einen künftigen Festvortrag, ich gehe diesem Thema jetzt nicht weiter nach. Dort jedenfalls, bei den Nationalstaaten, liegt die Regelungskompetenz. Die Politik – selbst die der Staaten, die begriffen haben und entschlossen sind, nach den Verirrungen der Deregulierungen die Einsicht umzusetzen, dass Märkte (allen voran Finanzmärkte) Regeln brauchen, dass es neben zulässigen Geschäften offenkundig auch unzulässige Geschäfte gibt, die bei einem Mindeststandard von ethischen Prinzipien schlichtweg verboten gehören – steht vor dem Problem, dass sie für diese Regelungskompetenz das angemessene Handlungsfeld nicht mehr hat. Denn das, was sich an Problemen abspielt, vollzieht sich nicht im Kontext des Nationalstaates und seines Regelsystems, sondern mit einer, zugespitzt formuliert, diabolischen Konsequenz außerhalb des Regelsystems, und die Möglichkeiten, dem dauerhaft und wechselhaft auszuweichen, sind mit Abstand ausgeprägter als die Gestaltungsmöglichkeiten des auch demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Nirgendwo ist es einfacher, ungewollten Regeln auszuweichen als auf den Finanzmärkten – was wiederum das Zögern erklärt, mit der nationale Gesetzgebungen hinter einer Entwicklung herlaufen, die eben nicht national, sondern global stattfindet. Unter diesem vorläufig bilanzierenden Gesichtspunkt kann die Politik sich nur falsch verhalten. Entweder sie macht von der Handlungsnotwendigkeit Gebrauch und tut dies im gegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen eines Nationalstaats – dann löst sie das Problem nicht und trifft die Player nicht. Diejenigen, die sie treffen will, sind in der Regel schneller aus dem Regelsystem heraus, als das Regelsystem überhaupt implementiert werden kann. Oder die Politik bezieht sich vernünftigerweise auf die Notwendigkeit internationaler Regelungen, die wirksam wären, von denen sie aber weiß, dass sie nicht zustande kommen – jedenfalls nicht so vollständig wie nötig und schon gar nicht sofort – und zieht daraus den logisch nicht ganz abwegigen, politisch aber wiederum fragwürdigen Schluss, dass es so lange, wie es international nicht geht, sowieso keinen Sinn mache, und bestätigt damit den Status quo, den sie eigentlich für unerträglich hält. Was folgt daraus? Unter den vielen unvollständigen, nicht restlos überzeugenden Lösungen, scheint mir noch am ehesten der Versuch vertretbar, auf dem Drahtseil zu marschieren – mit all den Absturzrisiken, die sich aus Drahtseilakten nun einmal ergeben. Also: In nationaler Zuständigkeit regeln, was national geregelt werden kann – übrigens sind wir in Deutschland damit deutlich weiter als irgendein anderes europäisches oder westliches Land –, was aber natürlich nicht die Lösung ist. Gleichzeitig sich bemühen, durch Vereinbarungen mit Partnerländern – insbesondere, aber keineswegs nur im Euroraum – das Spielfeld zu erweitern und damit hoffentlich die Aussicht zu vergrößern, dass die Regeln, von deren Notwendigkeit wir überzeugt sind, auch tatsächlich die gewünschten Wirkungen entfalten können. Das war übrigens ein zentrales Thema der heutigen Koalitionsverhandlungen.

Es gibt also ganz offenkundig die Notwendigkeit für Veränderungen, aber der Spielraum für mögliche Veränderungen ist leider viel kleiner als die Dringlichkeit dieser Veränderungen selbst. Auch deshalb macht es Sinn und ist es unvermeidlich, nicht nur auf Veränderungen im gesetzlichen Regelsystem hinzuwirken, sondern auch Veränderungen in den Mentalitäten. Da sind wir wieder bei der ethischen Dimension sozialen und politischen Handelns. Nur dann, wenn sich in den Köpfen die Notwendigkeit von Veränderungen durchsetzt, kann der Gesetzgeber mit Erfolgsaussichten handeln. Jedenfalls sollten wir uns bewusst sein, dass in Zeiten der Globalisierung die Politik die Wirtschaft nicht steuern kann. Falls es diese Möglichkeit je gab, ist sie vorbei und sie ist auch nicht wieder herstellbar. Andererseits darf nach den stattgefundenen Erfahrungen die Wirtschaft nicht ihrer Eigendynamik überlassen bleiben. Das ist mit Blick auf die eingetretenen und die möglichen weiteren Wirkungen völlig intolerabel. Also muss zwischen diesen beiden sich wechselseitig limitierenden Einsichten ein neuer Gleichgewichtszustand gesucht werden – ordoliberal gedacht werden: Kontrolle und Entflechtung von Macht –politischer wie wirtschaftlicher Macht – als unverzichtbare Voraussetzung für faire Wettbewerbsbedingungen.

Vor ein paar Jahren, meine Damen und Herren, hat Peter Sloterdijk – auch weder Jurist noch Ökonom – in einem dennoch interessanten Buch mit dem Titel Im Weltinnenraum des Kapitals folgenden nachdenklichen Satz geschrieben: „Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass sich die Erde um die Sonne dreht, sondern das Geld um die Erde“. Sloterdijk sagt nicht: „Hauptsache ist, dass sich das Geld um die Erde dreht“ – „Haupttatsache“ ist, dass es so ist; und er empfiehlt, die Tatsachen von den Hauptsachen wieder zu unterscheiden. Paul Kirchhof hat diesen Unterschied nie aus den Augen verloren, sondern im Gegenteil manchen die Augen geöffnet. Auch deshalb hat er den Preis verdient, zu dem ich ihm herzlich gratuliere.


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