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Johan Schloemann
"I have a dream". Die Kunst der freien Rede - Von Cicero bis Barack Obama
C.H. Beck, München 2019


Wenn die sorgfältige Wiedergabe der theoretischen Erkenntnisse wie die der praktischen Erfahrungen einer Profession über viele Jahrhunderte hinweg ausreichen würde, auch deren Weitergabe und Anwendung durch spätere Generationen zu sichern, dann läge mit diesem Buch eine kaum noch überbietbare Gebrauchsanweisung für Redner vor. Johan Schloemann, Altphilologe und Kulturredakteur, legt in Fortschreibung seiner Dissertationschrift zur griechischen Rhetorik eine ebenso kompakte wie prägnante Geschichte der freien Rede vor, die - abweichend vom Untertitel - glücklicherweise nicht erst mit Cicero beginnt und unglücklicherweise nicht mit Obama endet. Von der Professionalisierung der Rede im klassischen Athen über die römische Improvisationskunst, den immer wieder leidenschaftlichen Streit zwischen gesprochenem Wort und geschriebenem Text im Christentum vom Apostel Paulus bis zur Reformation und darüberhinaus schildert Schloemann aus einem offenbar unerschöpflichen Archiv mit hunderten konkreten Beispielen die Entwicklung der freien Rede in der westlichen Zivilisation über einen Zeitraum von mehr als zweieinhalbtausend Jahren bis zu ihrer Blüte in den bürgerlichen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich. Dabei überrascht immer weniger, dass die Empfehlungen zur Vorbereitung und Einstudierung von Reden sowie die damit gemachten Erfahrungen sich im Zeitablauf sehr viel weniger voneinander unterscheiden als die jeweiligen politischen Bedingungen. Das gilt auch und gerade für „Deutschlands Sehnsucht nach dem lebendigen Wort“, dem das längste Kapitel im Buch gewidmet ist, das wiederum den logischen wie historischen Zusammenhang von Freiheit und Beredsamkeit bestätigt, den schon Tacitus wie Voltaire für konstitutiv erklärt haben. Es ist vielleicht auch die Erklärung dafür, dass die Anzahl der bedeutenden Theoretiker der Redekunst die der großen Redner, die (auch für dieses Buch) in Erinnerung geblieben sind, deutlich übersteigt.



Von den drei ernstzunehmenden nationalen Parlamenten findet der Deutsche Bundestag bei Schloemann ein freundliches Urteil: „Es wurde das lebendigste und zugleich stabilste demokratische Parlament, das Deutschland je hatte“. Ebenso amüsant wie ernüchternd ist allerdings seine Schilderung des Umgangs mit der gleichbleibenden Geschäftsordnungsregel, dass im Plenum in freier Rede zu sprechen sei. Und selbstverständlich fehlen weder der Hinweis noch die Belege für die destruktive Variante einer gründlich falsch verstandenen Redekunst: „Demagogie ist die offene Flanke der Demokratie“.



„Das ist gewiß / wer ein gelehrter Politicus heissen will / der muß bey guter Zeit auf sein Mund-Werck bedacht sein“, schrieb Christian Weise, Dichter und Gymnasialdirektor in Sachsen, schon 1677 in seinem großen deutschsprachigen Lehrbuch der höfischen, bürgerlichen und schulischen Rhetorik. Das leuchtet sofort ein und lässt doch für die konkrete Nutzanwendung beinahe alle relevanten Fragen offen.


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