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Norbert Blüm
Ehrliche Arbeit – Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011


„Der Versuch des Menschen, ohne sich auszukommen, hat begonnen“


Ein Bestseller wird dieses Buch wohl nicht. Dem steht schon der biedere Titel im Wege, dem auch der aggressive Zusatz „ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier“ nicht wirklich weiterhilft: „Ehrliche Arbeit“. Dabei liefert der langjährige Bundesminister für Arbeit und Soziales genau das ab: eine ehrliche, gründliche, schonungslose, informative und zugleich durchaus unterhaltsame Auseinandersetzung mit den Veränderungen unserer Welt und ihrer Wirtschaftsordnung, die Arbeit immer mehr zu verdrängen scheint und dennoch nicht ersetzen kann – weder aus ökonomischen noch aus moralischen Gründen. „Arbeit wird zur Zuflucht unserer Humanität … aus dem Zwiespalt zwischen der Depression der Armut und dem Übermut der Technokratie kann sie uns möglicherweise retten“ (S. 125).


Für diese Schlussfolgerung bietet uns Norbert Blüm nicht nur eine eindrucksvolle Zusammenfassung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Menschheit an, sondern auch ihrer Kulturgeschichte, der Philosophie und Theologie, der Anthropologie wie der Soziologie und belegt einmal mehr, dass der vielgeschmähte „Herz-Jesu-Sozialist“ ein ausgewiesener promovierter Philologe ist, dem die einschlägigen Theorien nicht weniger vertraut sind als die gerne vernachlässigte Praxis. Seine gelegentlich virtuose Konfrontation antiker Mythologie mit moderner Wirtschaftswissenschaft enthüllt, dass sich beide durch die jeweilige Neigung zur Flucht aus der Wirklichkeit bisweilen kaum unterscheiden.


„Zusammen mit der Arbeit erfand Gott die Freizeit“ (S. 89). Dennoch oder gerade deshalb kann Blüm dem Schlaraffenland als säkularisierter Vorstellung vom Paradies nichts abgewinnen. „Der Mensch als Ebenbild Gottes nimmt durch seine Arbeit an der Schöpfung teil. In diesem dynamischen Schöpfungsverständnis kommt das biblische Weltbild dem der modernen Naturwissenschaften durchaus nahe“(S. 88f). Eine Welt ohne Arbeit würde für ihn nicht weniger bedeuten als das Ende der menschlichen Entwicklung, „Arbeit bewahrt uns vor der Erniedrigung durch Elend und vor der Hybris eines anstrengungslosen Lebens“ (S. 144).


Wer sich regelmäßig mit Wirtschaft und Gesellschaft, Geld und Arbeit, Fortschritt und Zivilisation, den Errungenschaften wie den Verirrungen eines vermeintlich aufgeklärten Kapitalismus beschäftigt, erfährt in diesem Buch nicht viel Neues, aber vieles Bekannte in einer bemerkenswerten Konzentration und einer eher ungewöhnlichen Perspektive, die allerdings dem Thema angemessener, durchdachter erscheint als die schiere Eigendynamik eines verselbständigten und selbstverliebten Systems, die Norbert Blüm überzeugend kritisiert.


Wer den Politiker oder den Buchautor Blüm länger kennt, findet vertraute Anekdoten aus dem eigenen Arbeitsleben, die er immer wieder gerne erzählt, ohne sie mit dem Anspruch einer „guten alten Zeit“ zu verbinden, die der Leser gleichwohl vermuten mag. Und die klugen Fragen seiner Enkelin Felize weisen auch dort, wo sie gut erfunden sind, einen erhellenden Pfad gescheiter Antworten des altersweisen Großvaters durch eine zunehmend verrückte Welt. Mal mit rheinischer Fröhlichkeit und der Lust zur Überspitzung und Übertreibung, mal mit alttestamentarischer Strenge und dem heiligen Zorn über alte und neue Ungerechtigkeiten in der Welt kämpft Blüm auch hier mit ungebrochener, bewundernswerter Energie gegen den systematischen Vorrang des Kapitals vor der Arbeit, den „Sittenverfall auf dem Arbeitsmarkt“, die „Balkanisierung der Gewerkschaften“, die zunehmende Verdrängung dauerhafter durch vorübergehende Arbeitsverhältnisse, gegen Leiharbeit als „Arbeit auf Zuruf“, gegen Kinderarbeit und Billiglöhne, leistungslose Phantasieeinkommen hemmungsloser Finanzjongleure, private Bereicherung bei staatlichen Rettungsmaßnahmen, gegen Riester-Renten und Bürgergeld und die entmündigende Bürokratie eines neuen Fürsorgestaates.


Die auflagenstarke Behauptung, Deutschland schaffe sich ab, ist von einem Mann wie Norbert Blüm nicht zu bekommen. Das wäre ihm erstens zu provinziell und zweitens zu kurzschlüssig. Seine Verzweiflung über erkannte wie bestrittene Fehlentwicklungen unserer Zeit und einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die ihre beste Zeit hinter sich habe, verbindet er mit der zuversichtlichen Perspektive eines aufgeklärten Konservativen, dass die Zukunft eine Zukunft haben könne: durch ehrliche Arbeit.


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