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Hermann Scheer
Die Politiker
Verlag Antje Kunstmann, München 2003


Das Buch ist kein Bestseller, aber es ist interessanter und besser als viele politische Bücher, deren Titel plakativer und deren Thesen spektakulärer sind: Es bietet mehr als die Auflistung bekannter Beobachtungen und viel strapazierter Klischees über Politiker, Parteien und Parlamente, vielmehr eine sorgfältige, differenzierende Auseinandersetzung mit den tatsächlichen und den vermeintlichen Defiziten eines politischen Systems, das für den Autor als „die gewaltengeteilte Verfassungsdemokratie der wichtigste zivilisatorische Fortschritt der Menschheitsgeschichte ist“. Hermann Scheer gehört als gelernter Sozialwissenschaftler dem Deutschen Bundestag seit mehr als 20 Jahren an, er ist mit dem Parlamentarismus als Beobachter wie als Beteiligter bestens vertraut, er bestreitet weder seine Vorzüge noch seine Probleme. Vor allem hat das Buch eine Botschaft, über die sich zu streiten lohnt.




Hermann Scheer kennt die Literatur und er kennt seine Pappenheimer, er kritisiert das Lavieren vieler Kollegen „zwischen Allzuständigkeits-Gehabe und Unzuständigkeits-Entschuldigung“, er beklagt das neurotische Verhältnis aller Gesellschaften zu ihren Politikern und die doppelten Maßstäbe, die an Politiker angelegt werden: „Einerseits maßlos übersteigerte Ansprüche an ein individuelles Alleskönnertum, die viele Politiker zu entsprechenden Etikettenschwindeleien und Hochstapeleien treiben; andererseits eine laufende Verflachung der Ansprüche an Politikerqualitäten, bei denen es mehr um äußerliche Verhaltensmerkmale als um Inhalte geht“. Mit erkennbarer Freude an den eigenen Beobachtungen charakterisiert Scheer die Klasse der Politiker in einer Typologie ihrer Antriebe als Machtspieler, Passionierte, Gesellschaftsarbeiter, Narzissten und Interessenvertreter – Idealtypen, die in der Realität meist in mehr oder weniger eindrucksvollen Mischformen anzutreffen sind. Besonders gut gelingt ihm die Beschreibung der Machtspieler, zu denen der passionierte Vorkämpfer für die Solarenergie selber wohl nicht gehört: „Ein begabter politischer Machtspieler kann forsch und zupackend, konsequent und risikobereit sein, wenn es um den persönlichen Machterwerb geht. Aber er ist eher ängstlich, zaudernd und risikoscheu, wenn sachliches Engagement gefordert ist, das für das Machtspiel hinderlich ist. Ist eine ideologische Wortführerschaft nützlich, schlüpft er in die Rolle des Ideologen – und aus dieser in die des Superpragmatikers, wenn wertfreier Pragmatismus gefragt ist. Erscheint ständige Medienpräsenz als machtsteigernd, werden Machtspieler zu ihren eigenen Pressesprechern… Sie drängen nach der Machtstellung, selbst wenn sie keine Idee haben, was sie damit bewerkstelligen sollen… Machtspieler trauen anderen alles zu, weil sie von sich auf diese schließen, sind notorisch misstrauisch und das Misstrauen wächst mit ihrem Machtzuwachs…“. Ähnlichkeiten zu real existierenden Persönlichkeiten sind ganz gewiß weder zufällig noch unbeabsichtigt. Trotz generalstabsmäßiger Planung bleiben politische Karrieren letztlich nicht berechenbar. Sie stehen und fallen mit den jeweiligen Umständen, langfristigen Entwicklungen und plötzlichen Ereignissen, Zufällen manchmal, wie der Autor am Beispiel der Reihe der deutschen Bundeskanzler belegt.




Hermann Scheer interessiert sich in seiner Studie weniger für die tatsächlichen oder eingebildeten Zumutungen einer politischen Laufbahn als einen privilegierten und zugleich diskreditierten Beruf, als vielmehr für die besondere Rolle des Politikers als Parlamentarier, und Hermann Scheer sieht „demokratische Politik zwischen Entmachtung und Selbstbeschneidung“, analysiert die Aushebelung des Parlamentarismus, seine Verdrängung durch exekutives Handeln und internationale Verträge. Zwischen Globalisierung und Demokratieabbau vermutet der Autor einen verhängnisvollen Kausalzusammenhang, die ihn zur Feststellung der Unvereinbarkeit von Demokratie und „global governance“ veranlaßt. Die verfassungsmäßige demokratische Verantwortlichkeit werde zunehmend durch internationale Verträge untergraben, die das Parlament nie gesehen oder nur mit unzumutbaren Fristen verhandelt habe, obwohl sie unmittelbar das ihm allein zustehende Entscheidungsrecht über den Haushalt betreffen. Beeindruckend ist seine Kritik an der neuen Welthandelsordnung als völkerrechtlicher Rahmen für die globale Liberalisierung von Waren, Kapital, Dienstleistungen, geistigen Eigentums, Rechten und Investitionen. Auch wer die Sorgen um die damit verbundenen Entwicklungsperspektiven für große und kleine, starke und schwache Länder nicht teilt, wird das Verfahren zur Ratifizierung des WTO-Vertrages in Deutschland und anderen Staaten nicht billigen wollen. Hier haben sich tatsächlich „politische Verfassungsorgane in geradezu fatalistischer Weise auf eine Entwicklung eingestellt..., in der ihre Entmachtung und ihre Selbstbeschneidung fließend ineinander übergehen“. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der spätestens im Kontext der neuen Weltwirtschaftsordnung Protektionismus prinzipiell unter Generalverdacht gestellt, für anachronistisch, wirklichkeitsfremd und sachlich unberechtigt erklärt wird, als gäbe es keine für ganze Gesellschaften schutzbedürftigen Sachverhalte mehr wie Kultur, Umwelt oder soziale Sicherheit, ist im wörtlichen Sinne fragwürdig: „Ohne staatlich garantierte Sicherheiten, also ohne Protektionismus, kann keine Gesellschaft leben. Ein global wirkender Antiprotektionismus ist nicht gesellschaftsfähig“, stellt Hermann Scheer bündig fest.




Zwischen Leitlehrformeln und Gegenwartslegenden beschreibt das Buch eine Codierung des politischen Denkens, das im Ergebnis zum Verkümmern des Politischen führte: Zur Reduzierung politischen Denkens und Handelns auf zahllose Kleinkorrekturen, der Scheu vor großen Politikentwürfen und Leitideen, eine Konsensorientierung mit der Fixierung auf das aktuelle Stimmungsbild in den Massenmedien, die es so lange wie möglich allen recht machen will, so wie einem zunehmenden Kompetenzverlust der Parlamente durch wachsende Dominanz der Regierungen und ihre Einbindung in europäische und internationale Institutionen. Dabei kann Hermann Scheer auch dem Europäischen Verfassungsvertrag keine wesentlich freundlichere Beurteilung abgewinnen als der Welthandelsordnung, schon gar nicht mit Blick auf die Legitimation politischer Entscheidungen durch nationale Parlamente. Hermann Scheer beklagt nicht nur die Unterwerfung der Politik unter die Ökonomie, sondern auch und gerade die damit verbundene Hierarchisierung der Meinungs- und Willensbildung: Die Rolle des Parlaments werde zunehmend durch Regierungen wahrgenommen, die von Regierungen und Gerichten durch internationale Organisationen, die Personenauswahl von Parlamenten und Parteien immer mehr durch die Medien.




Das ebenso informative wie streitbare Buch plädiert mit beachtlichen Argumenten für die Befreiung des politischen Denkens, die Überwindung der Bürokratisierung und Spezialisierung politischer Mandate, gegen Problemflucht und Ersatzhandlungen und immer wieder für die Wiederentdeckung der demokratischen Verfassung als politisches Grundsatzprogramm. Dabei bleiben die angekündigten Ideale politischen Handelns bedauerlicherweise ebenso allgemein wie folgenlos: „Demokratische Selbstbestimmung für eigenverantwortliche Selbsterhaltung“, ist als praktische Grundbedingung der Politik nicht besonders aufregend. Und ob die Gesellschaft eigentlich „eine permanente demokratische Revolution“ brauche, wird auch durch den Hinweis nicht viel anschaulicher, eine solche politische Kulturrevolution werde „antiautokratisch und aufklärerisch“ sein müssen, und der Appell an die Wertedimension politischen Handelns, die Verantwortung für künftige Generationen und die Unterschiede zwischen privatem und öffentlichem Raum sind weder neu noch wirklich umstritten. Dies gilt durchaus nicht für die Begrenzung nationaler und politischer Handlungsautonomie durch internationale Verträge und ein dogmatisches Prinzip globaler Liberalisierung, das „die demokratischen Institutionen zu Kolonialverwaltungen“ der unsichtbaren Hände autonomer Märkte und gewählte Parlamente zu untergeordneten Behörden der Binnenmarkt- und Wettbewerbskommissare internationaler Bürokratien mache. Hermann Scheer hält diese Entwicklung nicht nur für demokratiewidrig sondern auch für kulturwidrig, „eine arrogante Geschichtsvergessenheit und abenteuerliche Zukunftsblindheit“. Wie das von ihm geforderte Verbot von Exportsubventionen, die Einführung globaler, überall gleicher industrieller Normen, ein globales Steuersystem für Waren- und Kapitalströme verwirklicht werden soll ohne „global governance“, bei gleichzeitiger Wiederherstellung der Außenhandelskompetenz bei den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft, bleibt offen und streitig. Aber dieser Streit loht.




August 2004


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