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Günther de Bruyn
Unter den Linden
Siedlerverlag, Berlin 2002


Es gibt viele berühmte Straßen in der Welt, Berlins Prachtallee Unter den Linden gehört sicherlich dazu. Wie keine andere Straße in Deutschland spiegelt diese nicht nur die Geschichte der Stadt, sondern die Geschichte Deutschlands von der Zeit der preußischen Kurfürsten und Könige über das Kaiserreich, die Weimarer Zeit, den Nationalsozialismus und die DDR bis zur Wiedervereinigung nach dem Fall der Mauer, die am Brandenburger Tor als Abschluss dieses Boulevards national und international ihre stärkste Aufmerksamkeit gefunden hatte.




Am Anfang der wechselvollen Geschichte dieser Straße stand die Entscheidung des Großen Kurfürsten, zwischen dem damals bescheidenen Schloss und dem vergleichsweise großzügigen Tiergarten einen Jagd- und Reitweg anzulegen und mit Lindenbäumen bepflanzen zu lassen. Günter de Bruyn vermutet sicher zu Recht, dass sich der Name der Straße über alle Regimewechsel hinweg vielleicht nur der politisch neutralen Baumart wegen unverändert erhalten konnte. Den zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte Preußens, Berlins und seiner Hauptstraße, die von der routinierten Auflistung ordentlicher Reiseführer bis zur bau- und zeitgeschichtlichen Präzision wissenschaftlicher Publikationen reichen, fügt er eine knappe, aber sehr informative Beschreibung hinzu, die nie von Pathos und immer von Sympathie für das preußische Berlin geprägt ist.




Mit der Ausdehnung des Königreiches wuchs auch der ehemalige Reitweg allmählich zur Staatsstraße vom Schloss im Osten bis zum Brandenburger Tor im Westen, das neben 13 anderen Stadttoren damals die westliche Stadtgrenze markierte.


Seine politische Bedeutung verdankt das Brandenburger Tor Napoleon, der nach seinem Sieg über die preußischen Truppen bei Jena im Oktober 1806 in Berlin einmarschierte und Gottfried Schadows berühmte Quadriga als spektakuläre Beute nach Paris schaffen ließ. Erst nach dem Sieg über Napoleon im Sommer 1814 kehrte sie, gemeinsam mit den aus Frankreich heimkehrenden Truppen, im Triumphzug nach Berlin und auf das Brandenburger Tor zurück, dessen Vorplatz aus diesem Anlass den Namen Pariser Platz erhielt, auf dem sich inzwischen, scheinbar selbstverständlich, wieder die Französische Botschaft befindet.




Die Straße Unter den Linden repräsentierte sowohl das militärische Preußen als auch das geistig-künstlerische: mit den staatlichen Repräsentationsbauten diesseits und den Palais der Adligen sowie den bürgerlichen Zweckbauten jenseits der Friedrichstraße. Der Topographie folgend trägt Günter de Bruyn zusammen, was über die Lindenallee allgemein bekannt ist, und fügt manches hinzu, was eher unbekannt ist. Dabei ist ihm neben der Baugeschichte besonders an der Geistes- und Kunstgeschichte gelegen, deren Zusammenhänge er insbesondere durch Verweis auf die einschlägigen Berichte von Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann und Theodor Fontane belegt. Fontanes kritische Rezension des im berühmten Dreikaiserjahr 1888 erschienenen Buches "Bilder aus dem Berliner Leben" von Julius Rodenberg, der Kultur- und Literaturgeschichte zu viel und den zahlreichen Anekdoten um Generäle, Prinzen und Paläste zu wenig Platz eingeräumt zu haben, lässt sich gegenüber de Bruyns Darstellung kaum aufrechterhalten. Er verbindet die bekannten wie die weniger bekannten Gebäude mit den amüsanten wie den bedrückenden Geschichten, die darin sich darin abgespielt haben - von den Künstlern und Wissenschaftlern bis zu den Freudenmädchen, vom Zeughaus und seinen wechselnden Nutzungen am Anfang bis zum Haus Liebermann am Ende der Lindenallee, von dem der damalige jüdische Präsident der Akademie der Künste den Triumphmarsch der SA durch das Brandenburger Tor nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler beobachten konnte und musste.




Die erheblichen baulichen Veränderungen, die sich vor allem im unteren Teil der Lindenallee zwischen Brandenburger Tor und Friedrichstraße vor und nach den beiden Weltkriegen ergeben haben, werden von Günter de Bruyn mit ausdrücklicher Kritik referiert. "Ohne allzu sehr zu übertreiben, läßt sich von diesem Teil der Linden sagen, dass jede Generation sie sich durch Abriss und Neuaufbau wieder erschuf. Sie war immer ein Eldorado für Architekten, die, der gerade der herrschenden Mode folgend, Schinkel, dem sie sich ebenbürtig fühlten, für altmodisch hielten und so Bauten schufen, die die nächste Generation wieder abreißen konnte, ohne dass ihnen das Gewissen schlug". Der mit dem deutschen Nationalpreis und verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor führt dies auf einen allgemeinen Mangel an historischem Empfinden zurück, der auch ein Zeichen von Kulturlosigkeit sei. Der Mangel an Erfurcht vor dem historisch Überkommenen werde auch in dem hartnäckigen, "glücklicherweise aber erfolglosen Widerstand gegen die aus städtebaulichen und historischen Gründen notwendige Wiedererrichtung des Schlosses" deutlich.




Günter de Bruyn beschränkt sich keineswegs auf die nüchterne Wiedergabe einer mehr oder weniger glorreichen Vergangenheit, er stellt auch Bezüge zur Gegenwart her: "Der immer wieder in Berlin grassierende Wahn, größer und pompöser bauen zu müssen, wie wir ihn noch heute am Potsdamer Platz, am Bundeskanzleramt und am Holocaustdenkmal erleben, war auch damals schon rege und machte selbst vor künstlerisch bedeutenden Hinterlassenschaften nicht Halt".




Die freundlichen wie die unfreundlichen Kommentare des Autors zur wechselhaften Geschichte von Berlins Prachtboulevard gewinnen erheblich an Plausibilität durch die zahlreichen archivarischen Fotos, mit denen der Text illustriert ist. Vielleicht wirkt der schmale Band auch deswegen so überzeugend, weil er so unaufgeregt und bescheiden daherkommt und jeden historischen oder literarischen Ehrgeiz vermeidet.




"In Rom, Athen und bei den Lappen,


da spähen wir jeden Winkel aus;


indes wir wie die Blinden tappen


in unserm eigenen Vaterhaus",




zitiert Fontane ein Gedicht von Karl Simrock, das wiederum von Günter de Bruyn angeführt wird. Sein Buch trägt dazu bei, Berlins Haupt- und Staatsstraße mit offenen Augen wahrzunehmen.




April 2003


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