Joseph Kardinal Ratzinger
Werte in Zeiten des Umbruchs

Mai 2005

Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 2005

Das letzte der zahlreichen Bücher und Schriften des bedeutenden Theologen ist die erste Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen, die noch vom Kardinal Ratzinger verfaßt worden sind und von den Lesern als Dokumente des neuen Papstes wahrgenommen werden. Für die Texte selbst mag dies unerheblich sein, für ihre Wahrnehmung ganz gewiß nicht.

Das Buch richtet sich weder an ein Fachpublikum noch an eine kirchlich gebundene Öffentlichkeit. Die drei Kapitel über Politik und Moral, Grundlagen und Perspektiven Europas und die Verantwortung für den Frieden laden eine breite Öffentlichkeit ein, über die Fundamente unseres Zusammenlebens nachzudenken. Dabei ist von der katholischen Kirche auffällig wenig, vom christlichen Glauben ständig die Rede.

Einfach sind seine Argumente selten, bequem nie. In seinem Beitrag über Gewissen und Wahrheit entfaltet Ratzinger zwischen dem Anspruch der Freiheit des Subjekts und seiner Einengung durch Autorität die Unbedingtheit und zugleich Relativität des Gewissensurteils. Niemand dürfe gegen seine Überzeugung handeln, auch das irrige Gewissen binde, es entbinde allerdings nicht von der ernsthaften Prüfung der eigenen Überzeugung, die sich der Wahrheit und ihrem Anspruch öffnen müsse. In diesem Kontext begründet Ratzinger den wahren Sinn der Lehrgewalt des Papstes damit, „daß er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es ... gegen die Zerstörung des Gedächtnisses, das sowohl durch eine den eigenen Grund vergessende Subjektivität wie durch den Zwang sozialer und kultureller Konformität bedroht ist“.

Der Vortrag über „Europas Identität – seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen“ im italienischen Senat vom 13. Mai 2004 ist ein glänzendes Zeugnis des brillanten Intellektuellen Joseph Ratzinger und seiner profunden historischen und philosophischen Bildung. Von der Entstehung Europas mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches, seiner doppelten Teilung durch den Siegeszug des Islam in die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa sowie der Trennung zwischen dem lateinischen Europa des Westens und dem Oströmischen Reich mit Byzanz als dem neuen Rom schlägt der Autor den großen Bogen über parallele und auseinanderstrebende Entwicklungen des alten Kontinents. Durch die Abwanderung des Kaisertums aus Rom habe sich seit Konstantin in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln können, mit einer auch theologisch begründeten Dualität der Gewalten. „Damit ist eine Gewaltentrennung und -unterscheidung eingeführt, die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen das eigentlich Abendländische grundgelegt hat“. Den Beginn der Neuzeit markiert neben der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und den Verlust seiner historischen Kontinuität zum Römischen Reich die Reformation mit der Ablösung großer Teile der germanischen Welt von Rom. Für Ratzinger entsteht damit „eine neue, aufgeklärte Art des Christentums …, so daß durch das ‚Abendland’ von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet“. Mit der Französischen Revolution werde schließlich die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz gänzlich abgeworfen: Der Staat wird nunmehr allein auf Rationalität und Bürgerwille gegründet, „erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und die Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört“.

Es überrascht nicht, daß der bedeutende Theologe Joseph Ratzinger in der Universalisierung der europäischen Kultur und ihrer technisch-säkularen Lebensmuster zugleich ihre Krise diagnostiziert: „Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen“. Weder das laizistische Model der strengen Trennung von Staat und religiösen Körperschaften noch die staatskirchlichen Modelle des liberalen Protestantismus hätten die moralische Kraft entwickelt, die der Staat selbst nicht schaffen könne, sondern voraussetzen müsse. In dieser Situation der geistigen Auszehrung habe sich der demokratische Sozialismus „als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht, sie bereichert und auch korrigiert“. Den ausdrücklichen Hinweis, der demokratische Sozialismus habe nicht nur zur sozialen Bewußtseinsbildung erheblich beigetragen, sondern stehe in vielem der katholischen Soziallehre nahe, wird nicht jeder Leser in einem Ratzinger-Text erwartet haben.

Ob es in den gewaltigen Umbrüchen unserer Zeit eine Identität Europas gibt, die Zukunft hat und zu der wir von innen her stehen können, ist nicht nur für den Theologen eine zentrale Frage. Ratzinger erinnert an die Überzeugung der Väter der europäischen Einigung Adenauer, Schuman und De Gasperi, daß man nach den Greueln des Krieges mit einer neuen Zuwendung zu den großen Konstanten des christlichen Erbes „wieder zu dem zurückkehren müsse, was diesem Kontinent in allen Leiden und Verfehlungen seine Würde gegeben hatte“. Für die aktuelle Diskussion der europäischen Verfassung beansprucht der Kardinal keine besondere, schon gar keine exklusive Autorität. Sein Hinweis auf „Zweideutigkeiten in wichtigen Punkten“ der inzwischen verabschiedeten Europäischen Charta wird man allerdings ernstnehmen müssen. Die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrechte als Werte proklamiert werden, die jeder staatlichen Rechtsetzung vorangehen, kodifiziere ganz wesentlich christliches Erbe, das gleichwohl nur verschämt neben anderen kulturellen Traditionen als Fundament reklamiert und schon gar nicht für allgemeinverbindlich erklärt werde. „Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen“. Europa brauche aber „eine neue – gewiß kritische und demütige – Annahme seiner selbst, wenn es überleben will“.

Die zwischen 1992 und 2004 entstandenen Vorträge und Aufsätze präsentieren einen Kirchenfürsten, der an der politischen Verfassung der Welt nicht weniger interessiert ist als an der Situation der Kirche, für die er nun die oberste Verantwortung übernommen hat. Seine Bemerkungen zum Verhältnis von Politik und Moral, politischen Visionen und Praxis der Politik sowie insbesondere zu den vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Staates sind konservativ im besten Sinne des Wortes: selten aufregend, immer anregend und an der Erhaltung der Ordnung ebenso interessiert wie an der Veränderung der Welt – in der souveränen Erkenntnis, daß das eine mit dem anderen zusammenhängt. Aus den Schriften des Neuen Testaments begründet Joseph Ratzinger den Anspruch des Staates auf Gehorsam und zugleich seine Grenzen: „Sofern sie Frieden und Recht garantieren, entsprechen sie einer göttlichen Verfügung… Gerade in seiner Profanität ist der Staat zu achten; er ist vom Wesen des Menschen als animal sociale et politicum her notwendig, in diesem menschlichen Wesen und damit schöpfungsmäßig begründet“. Die Verweigerung der Anbetung staatlicher Macht und irdischer Mächte im Respekt vor dem höheren göttlichen Recht bedeute zugleich die Ablehnung eines totalitären Staates. Die Politik habe nicht das Reich Gottes zu errichten, wohl aber die Voraussetzungen für den inneren und äußeren Frieden einer Gesellschaft zu schaffen und damit für das rechte Reich der Menschen zu sorgen. „Aber diese Begrenzung der Reichweite des Staates und diese Eröffnung des Horizonts einer künftigen neuen Welt hebt die bestehenden staatlichen Ordnungen nicht auf, die auf der Basis der natürlichen Vernunft und ihrer Logik weiter walten müssen und gültige Ordnungen für die Zeit der Geschichte sind“. Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Einsatz der Christen in der Politik, die dem Anspruch einer nicht bloß technisch-kalkulatorischen, sondern der moralischen Vernunft genügen müssen.

Der Fundamentaltheologe Joseph Ratzinger führt die für das Religions- und Wissenschaftsverständnis des Abendlandes grundlegende Auseinandersetzung des großen Kirchenlehrers Augustinus mit dem Spannungsverhältnis zwischen Glaube und Vernunft für die Neuzeit weiter, indem er die Ambivalenz von Fortschritt, Wissenschaft und Freiheit als die im allgemeinen Bewußtsein dominierenden aktuellen Werte kritisch beleuchtet. Gegen ein anarchisches und antiinstitutionelles Mißverständnis der Freiheit, gegen die Pathologien der Wissenschaft und die beliebige Verzwecklichung ihres Könnens sowie die mythische Vereinseitigung des Fortschritts, der längst begonnen habe, die Schöpfung als Basis unserer Existenz zu gefährden, besteht der Theologe Joseph Ratzinger keineswegs auf dem Vorrang des Glaubens, sondern auf der Verteidigung der Vernunft und ihrer moralischen Ansprüche als der „Freigabe der Vernunft zu sich selbst“. Die fatale Verbindung von religiösem Fanatismus und terroristischer Gewalt läßt ihn ausdrücklich die Frage stellen, ob Religion dann noch eine heilende und rettende oder nicht eher eine archaische und gefährliche Macht sei: „Muß da nicht Religion unter das Kuratel der Vernunft gestellt und sorgsam eingegrenzt werden? ... Ist die allmähliche Aufhebung der Religion, ihre Überwindung, als nötiger Fortschritt der Menschheit anzusehen, damit sie auf den Weg der Freiheit und der universalen Toleranz kommt, oder nicht?“ Zugleich seien angesichts der Erfahrungen mit Menschenzüchtung, Selektion wertvollen und vermeintlich unwerten Lebens, der Verselbständigung von Technik und Wissenschaft bis hin zu gigantischen Massenvernichtungswaffen längst Zweifel auch an der Verläßlichkeit der Vernunft aufgestiegen. Müßte also jetzt nicht umgekehrt die Vernunft unter Aufsicht gestellt werden, fragt der Kirchenführer und erstaunt seine Leser mit der Verweigerung des Vorrangs der einen vor der anderen Orientierung im Sinne einer wechselseitigen Begrenzung: ebenso wie es „Pathologien in der Religion gibt, die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan zu sehen, von dem her sich Religion immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muß“, so gebe es auch eine Hybris der Vernunft, die in ihrer potentiellen Effizienz noch bedrohlicher sei. „Deswegen muß umgekehrt auch die Vernunft an ihre Grenzen gemahnt werden und Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit lernen“. Ratzingers Plädoyer für die Notwendigkeit der Verbindung von Vernunft und Glaube, Politik und Religion, „die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das auch gegenseitig anerkennen müssen“, versteht sich nicht zuletzt in der Erkenntnis der Unverzichtbarkeit eines interkulturellen Dialogs um die Grundfragen des Menschseins, die nach seiner Überzeugung weder rein binnenchristlich noch allein innerhalb der abendländischen Vernunfttradition geführt werden kann. Um so dringender müsse diese Grundregel im multikulturellen Kontext unserer Gegenwart konkretisiert werden. „Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muß man ohne falschen Eurozentrismus sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen Kräfte“. Diese Einschätzung werden viele Politiker und Publizisten teilen, die wenigsten würden sie auch zum Ausdruck bringen.

Man muß kein gläubiger Katholik sein, um den Hinweis des neuen Papstes auf den Dekalog als Maßstab für solche Werte, die auch für Mehrheiten nicht zur Debatte stehen dürfen, für richtig und angemessen zu halten, zumal die Zehn Gebote in der Tat kein Sonderbesitz der Christen oder der Juden sind. Als höchster Ausdruck moralischer Vernunft treffe sich der Dekalog mit der Weisheit der anderen großen Kulturen.

Die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der fundamentalen Frage nach der Wahrheit begründet den Relativismus als Voraussetzung der Demokratie und als die eigentliche Garantie der Freiheit. Kardinal Ratzinger bestätigt, daß die Achtung der Freiheit jedes einzelnen heute ganz wesentlich darin gesehen wird, daß die Wahrheitsfrage nicht vom Staat entschieden wird. Umgekehrt scheine ein Grundbestand an sittlicher Wahrheit gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein, schon gar angesichts der „Blindheit der Vernunft für die ganze nicht-materielle Dimension der Wirklichkeit“. Schließlich sei es gerade diese eschatologische Haltung, die dem Staat sein eigenes Recht garantiere und zugleich dem Absolutismus wehre, indem sie die Grenzen sowohl des Staates als auch der Kirche in der Welt aufzeigt. „Das Menschsein beginnt in allen Menschen neu. Deswegen kann es die endgültig neue, fortgeschrittene und heile Gesellschaft nicht geben, auf die nicht bloß die großen Ideologien gehofft haben, sondern die – nachdem die Hoffnung auf das Jenseits abgebaut wurde – immer mehr zum allgemeinen Hoffnungsziel wird“. Eine endgültig heile Gesellschaft würde den Verlust oder Verzicht auf individuelle Freiheit voraussetzen. Und weil der Mensch immer frei bleibe und in jeder Generation neu beginne, müsse auch die rechte Form der Gesellschaft immer neu in den je neuen Bedingungen errungen werden. Insoweit sei das Reich der Politik die Gegenwart und nicht die Zukunft.

„Hoffnung auf den Himmel steht nicht gegen die Treue zur Erde, sie ist die Hoffnung auch für diese Erde. Auf das größere und endgültige Hoffen dürfen und müssen wir Christen auch ins Vorläufige, in unsere Staatenwelt hinein Hoffnung tragen“. Und so geht die große Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden nicht zwischen Diesseits und Jenseits verloren, sondern sie wird zu einer jeweils unverwechselbaren und zugleich unaufgebbaren Aufgabe der Politik wie der Religion, der Staaten wie der Kirchen. Daß Papst Benedikt XVI. in dieser Wahrnehmung der Staatsbürger wie der Gläubigen dem klugen Kurienkardinal Ratzinger folgt, ist nicht die geringste Hoffnung zu Beginn seines Pontifikats.


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