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Der Umweg über Telgte nach Kassel
Laudatio auf den Jacob-Grimm-Preisträger Christian Meier

Verehrte Preisträger, Stifter und Juroren, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, dem Hessischen Landtag, den kommunalen Parlamenten, verehrter, lieber Herr Professor Meier, meine Damen und Herren!
„Ich glaube, Lesen und Schreiben sind die gefährlichsten menschlichen Tätigkeiten, weil jene Partie des Geistes, auf die sie einwirken und aus der Sie hervorgehen, zugleich diejenige ist, in der die Urteile über die Wirklichkeit entstehen, und weil die Sprache eine solche Autorität besitzt.“
Dieser Satz, meine Damen und Herren, ist leider nicht von mir. Ich habe ihn bei dem amerikanischen Autor Harold Brodkey gefunden in einer Sammlung bemerkenswerter Essays, die unter dem wunderschönen Titel erschienen sind Liebeserklärungen und andere letzte Worte. Und weil die Sprache eine solche Autorität besitzt, steht sie zu Recht im Mittelpunkt dieser Festversammlung, und deshalb steht der Satz am Beginn der Laudatio für den Träger des Jacob-Grimm-Preises 2003. Nun beginnt meine Laudatio nach dem ehrgeizigen Zeitplan des Veranstalters zu einem Zeitpunkt, zu dem sie längst beendet sein sollte. Ich bitte alle Beteiligten um Nachsicht, daß ich die dadurch möglicherweise schon eingetretenen oder zu befürchtenden Probleme nicht und schon gar nicht vollständig lösen kann. Denn wenn die wichtigste Aufgabe meines Vortrags darin bestünde, den Zeitplan einzuhalten, müßte er ersatzlos entfallen. Das wäre schön für den Zeitplan, aber vielleicht doch schade für den Preisträger. Und deshalb bitte ich zu Beginn den Preisträger um Nachsicht, wenn manches nur erwähnt werden kann, was im einzelnen darzustellen wert und wichtig wäre, und ich bitte die Veranstalter um Geduld, wenn ich ein paar mehr Minuten brauchen sollte, als die vorgesehenen gut fünfzehn Minuten, die tatsächlich ausgereicht hätten, das vorzutragen, was ich eigentlich gerne vorgetragen hätte.
Meine Damen und Herren, dem politischen Ehrgeiz deutscher Schriftsteller und der Hilflosigkeit ihrer Zusammenkünfte hat Günter Grass in seiner berühmten Erzählung Das Treffen in Telgte ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Als namenlos bleibender Chronist berichtet er von einem Treffen der wichtigsten Dichter des 17. Jahrhunderts, das im Sommer 1647 parallel zu den in Münster und Osnabrück laufenden Verhandlungen zum Westfälischen Frieden stattgefunden haben soll, um der Realität einer in absolutistische Kleinstaaten zerfallenden, konfessionell wie sprachlich zunehmend geteilten Heimat die Utopie einer durch gemeinsame Sprache definierten nationalen Einheit entgegenzusetzen.
„Nach Tisch“, schreibt Günter Grass, „nach Tisch sollte nämlich über die Sprache geredet werden. Was sie zerstört habe und woran sie gesunden könnte, welche Regeln aufgestellt bleiben müßten und welche den Versfluß in Enge hielten, was als Hochdeutsch gelten dürfe und welchen Wert man den Mundarten beimessen sollte.“ Tatsächlich hat dieses Treffen nie stattgefunden. Dennoch hat sich die Entwicklung einer weithin gemeinsamen deutschen Sprache über die nächsten Jahrhunderte hinweg allemal eindrucksvoller entwickelt als die politische Verfassung Deutschlands in diesem Zeitraum. Günter Grass hat seine Erzählung bekanntlich Hans Werner Richter, dem Freund und Gründer der Gruppe 47, zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Nicht zufällig läßt er das große Dichtertreffen in Telgte im Sommer 1647 stattfinden, und genauso wenig zufällig beschreibt er die am Ende folgenlosen Bemühungen um die Verabschiedung eines politischen Manifests der anwesenden Schriftsteller zur verzweifelten Lage der Nation: „Wieder einmal war den Poeten nichts gewisser als ihre Ohnmacht und ihre mangelnde Kenntnis der politischen Kräfte.“ Daß im endgültigen Text des Manifests die wirtschaftliche Lage der Druckereien wie der Autoren beklagt werden müsse und eine verbindlichere Honorarordnung gestaffelt nach Stand und Vermögen für Auftragspoeme in das Manifest einbezogen werden müsse, ist eine herrliche Realsatire auf den damaligen Streit um Urheberrechte, die die Folgenlosigkeit des Textes vorausnimmt, der schließlich einer Feuersbrunst zum Opfer fällt. „So“, schreibt Grass, „so blieb ungesagt, was doch nicht gehört worden wäre.“
Ein Jahr später hat Grass in seinen Aufzeichnungen für ein mögliches Filmprojekt gemeinsam mit Volker Schlöndorff Kopfgeburten oder die Deutschen streben aus das Thema noch einmal variiert: „Wäre das denn so schlimm? Sind nicht viele Kulturvölker nur noch in Museen bestaunenswert – die Hethiter, Sumerer wie die Azteken? Ist keine Welt vorstellbar, in der tausend Jahre später die Kinder einer neu sich heranbildenden Völkergemeinschaft vor Glaskästen stehen und staunen über die Wohnkultur und über die Eßgewohnheiten der Deutschen, über ihren unbeirrbaren Fleiß, über ihren Hang alles, sogar ihre Träume, zu ordnen. Und könnte nicht die deutsche Sprache wie heute das Latein der Römer zur toten aber doch zitierbaren Sprache werden?“
Ich hoffe, meine Damen und Herren, allmählich wird deutlich, daß der Umweg über Telgte nach Kassel führt. Das Treffen in Telgte, das unbestritten zu den bedeutenden Werken des deutschen Literaturnobelpreisträgers gehört, ist in mancherlei Hinsicht bemerkenswert: der äußere Anlaß, die kunstvolle Verbindung zwischen der Gruppe 47 und der politischen Lage Deutschlands am Ende des Dreißigjährigen Krieges und nach dem 2. Weltkrieg, der eigentümliche Glanz eines Dichtertreffens im allgemeinen Elend der Zeit, das künstlerische und politische Selbstverständnis der Künstler und ihr Beitrag zur Entwicklung der Nation im allgemeinen sowie zur Vermittlung einer gemeinsamen deutschen Sprache als Grundlage nationaler Einheit im besonderen. Alle Teilnehmer dieser Veranstaltung werden namentlich aufgeführt, nur der Chronist bleibt anonym. Die spontane Vermutung, hier nehme Günter Grass gänzlich unauffällig an einer früheren Versammlung bedeutender deutscher Dichterfürsten teil, verbietet sich nach einigem Nachdenken von selbst. Es ist geradezu unvorstellbar, daß Grass sich in dieser Runde und schon gar zu diesen Themen nicht wortgewaltig beteiligt und das politische Manifest nicht kräftig redigiert, wenn schon nicht selber vorgelegt hätte. Und unwahrscheinlich ist wohl auch, daß über beides nicht anschließend öffentlich berichtet worden wäre. Der Chronist muß jemand gewesen sein, der persönliche Neugierde mit bescheidener Zurückhaltung zu verbinden wußte, über einen geschulten Blick für Ereignisse verfügte sowie über die Begabung, Ursachen und Hintergründe zu ermitteln und schließlich die Fähigkeit, die beobachteten Ereignisse in den Kontext der allgemeinen Verhältnisse einzuordnen und damit dem Leser das eine wie das andere zu vermitteln. Ein Historiker also – jemand wie Christian Meier, den ich mir sehr gut als den bislang unbekannten Chronisten des großen Dichtertreffens in Telgte vorstellen kann. Mit einer kleinen Einschränkung: Ich bin nicht sicher, ob er die Feuersbrunst hätte verhindern können, aber das Manuskript wäre erhalten geblieben.
Ich möchte einige wenige Bemerkungen zum Historiker, zum Intellektuellen und zum Akademiepräsidenten Christian Meier machen.
Dem Historiker Christian Meier verdanken wir einige Standardwerke zur griechischen und zur römischen Geschichte. Athen und Cäsar sind zwei im wörtlichen wie im übertragenen Sinne gewichtige Werke der Geschichtswissenschaft. Das erste handelt von der Grundlegung der Demokratie in unserer Zivilisation, das zweite über die Ursachen vom Aufstieg und Fall charismatischer Führer. Das eine ist heute noch so aktuell wie das andere. Und beides ist in glänzendem Stil formuliert – eine Begabung, die Christian Meier wie manchen prominenten Vorgängern, von Jacob Burkhart über Theodor Mommsen bis Golo Mann, nicht immer nur die ungeteilte Bewunderung seiner Zunftgenossen eingetragen hat.
Der Intellektuelle Christian Meier ist nicht der weltfremde Gelehrte im Elfenbeinturm seiner Wissenschaft, sondern ein engagierter Staatsbürger, der Flagge gezeigt und Zeichen gesetzt hat. Es fehlt in Deutschland nicht an Geistesgrößen einschließlich solcher, die sich dafür halten, die die Unzulänglichkeiten der Demokratie, des Parlamentarismus und insbesondere der Parteien lautstark in jedes Mikrophon blasen und in jeder Zeitschrift zu plazieren wissen. Aber es gibt nur wenige Intellektuelle in Deutschland, die – gegen den Zeitgeist – den Parlamentarismus wie die Parteien weder für verkommen noch für verzichtbar halten, und die wie Christian Meier diese Einsicht nicht für sich behalten, sondern mit erkennbar begrenzten Aussichten auf öffentlichen Jubel öffentlich vertreten; und denen zu einem so umstrittenen – und nach meinem bescheidenen Urteil bis heute gleichwohl unüberbotenen – System wie der Demokratie solche schlichten Sätze einfallen, wie der, daß ihre Unzulänglichkeit nicht zuletzt darin bestehe, daß sie zu wünschen übrig lasse. Dieses offensichtliche Handicap der Demokratie ist nämlich auch der nicht so offensichtliche Vorzug dieses Systems: daß es wünschen läßt und zu wünschen übrig läßt. Was das wert ist, wissen offenkundig die besser zu beurteilen, die nie in die Verlegenheit gekommen sind, solche Wünsche artikulieren zu dürfen.
Den Akademiepräsidenten Christian Meier habe ich bei vielen Gelegenheiten beobachten und kennenlernen dürfen. Er war nach meiner Einschätzung der richtige Präsident dieser Akademie zur richtigen Zeit, denn seine Amtszeit fiel in eine Periode, in der aus mancherlei Gründen, von denen auch in den Vorreden bereits die Rede war, die deutsche Sprache sich Herausforderungen und Anfechtungen ausgesetzt sah. Von der statistisch nach wie vor beachtlichen Bedeutung der deutsche Sprache war schon die Rede, von der genausowenig zu übersehenden Relativierung im Kontext der allgemeinen Bevölkerungs- und Sprachentwicklung ebenso. Und daß Deutsch als Wissenschaftssprache nicht annähernd mehr den Stellenwert hat, der über Jahrzehnte unangefochten schien, ist leider auch wahr. Manches an diesen Veränderungen und Herausforderungen war unvermeidlich, manche Entwicklungen müssen wohl eher als Selbstverstümmelungsversuche direkt und indirekt Beteiligter beschrieben werden. Dies gilt sowohl für die Bedrängungen und Überwucherungen der Sprache durch Anglizismen als auch für die unter nahezu jedem Gesichtspunkt verzweifelten Bemühungen um eine Rechtschreibreform. Nun will ich Ihnen freimütig sagen, auch in dem Bewußtsein, daß das nicht allen gefallen kann, daß ich persönlich sowohl den Eifer der sogenannten Rechtschreibreformer als auch die Besorgnisse vieler Schriftsteller und Akademien für etwas übertrieben gehalten habe. Ich möchte das in einer Formulierung von Christian Meier verdeutlichen: „Sprachen“, hat er mal in einem Interview gesagt, „Sprachen haben einen großen Magen. Sie scheiden auch manches ganz von alleine wieder aus.“ Diese Zuversicht teile ich, wenngleich ich sofort akzeptiere, daß mit Blick auf den Zustand der deutschen Sprache die Beschreibung einer ernsthaften Magenverstimmung nicht übertrieben ist. Mir hat der Einsatz des Akademiepräsidenten Christian Meier nicht nur, aber insbesondere im Kontext dieser Debatte um eine Rechtschreibreform sehr imponiert. Sein Engagement, sein Informationsstand, aber nicht zuletzt auch seine Souveränität und das Format, einen Reformvorschlag zur stattgefundenen Reform vorzulegen, nachdem dieselbe nicht nur nach seinem Eindruck eindrucksvoll gescheitert war. Da hätte sich manch anderer mit fundamentalistischer Gebärde zurückgelehnt und erklärt: Nun sehet ihr zu! Der Akademiepräsident Christian Meier hat sich so verhalten, wie er manche Staatsbürger aus weit zurückliegenden Jahrhunderten in seinen zitierten Werken beschrieben hat. Er hat sich verhalten wie jemand, dem die Sache noch wichtiger ist als der Nachweis der früher schon gezogenen Position. Und er hat damit, wie ich finde, eben nicht nur Flagge gezeigt, sondern auch ein Zeichen dafür gesetzt, wie wir, in welchen Rollen auch immer, diesseits und jenseits der Politik unsere Aufgabe als Staatsbürger verstehen und wenn eben möglich auch wahrnehmen sollten. Ich werde im übrigen, lieber Herr Meier, nie die Begrüßungsansprache vergessen, die Sie als Präsident der Akademie anläßlich des 50. Bestehens dieser Akademie für Sprache und Dichtung in der Frankfurter Paulskirche vorgetragen haben. Der Bundespräsident sei leider verhindert, trug er vor. Der Bundeskanzler habe Wichtigeres zu tun, ebenso wie der Hessische Ministerpräsident. Auch der Bundestagspräsident bedaure, nicht dabeisein zu können. Christian Meier faßte die Absagen bündig zusammen: Das Fehlen der höchsten staatlichen Repräsentanten sei gewiß schade, spare aber viel Zeit. Und diese gesparte Zeit wurde damals übrigens durch eine hinreißende Serie von Lesungen zahlreicher Büchnerpreisträger aus den Werken nicht mehr lebender Vorgänger in einer kaum überbietbaren Weise bestens ausgefüllt.
Nach der Selbstbeschreibung des deutschen Kulturpreises möchte der Kulturpreis Deutsche Sprache kulturelle und sprachliche Selbstachtung und entsprechendes Selbstbewußtsein in einer offenen, demokratischen und europäisch orientierten Gesellschaft fördern. Der Jacob-Grimm-Preis will beispielhafte Verdienste bei der kreativen Weiterentwicklung unserer Sprache und phantasievolle Beiträge zur Erweiterung ihres Funktionsspektrums auszeichnen, im deutschen Sprachgebiet insbesondere Verdienste um die Anerkennung, Weiterentwicklung und Pflege der deutschen Sprache als Kultursprache sei es in literarischen Werken, sei es in politischen Essays oder Abhandlungen, sei es in der politischen Rede oder Publizistik. Dies liest sich so, als wäre der Jacob-Grimm-Preis für Christian Meier erfunden worden.
Heinrich von Kleist, der heute Geburtstag hat oder hätte, wenn er nicht 34, sondern 226 Jahre alt geworden wäre, Heinrich von Kleist, unter den großen Meistern der deutschen Sprache vielleicht der größte, hätte an diesem Preis und an diesem Preisträger und an der Verbindung von Geschichte und Sprache und Nation seine helle Freude gehabt. Mit seinem eindrucksvollen, entschlossenen aber nie dogmatischen Einsatz für die Sprache hat sich Christian Meier in die Tradition großer deutscher Gelehrter eingereiht, die wie Jacob Grimm Politik und Wissenschaft nicht als feindliche Mächte mißverstanden, sondern als gleichrangige und jeweils unverzichtbare Möglichkeiten der Aufklärung und der Gestaltung einer Gesellschaft begriffen haben. Daß der Jacob-Grimm-Preis im Jahr 2003 an Christian Meier geht, versteht sich nach alldem beinahe von selbst. Ich gratuliere Ihnen herzlich.


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