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3. Mannheimer Rede: "Was hält unsere Gesellschaft zusammen" (Auszüge)
Mannheim, 24. April 2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr für die liebenswürdige Begrüßung und für die Einladung zu dieser Veranstaltungsreihe, die ich gerne angenommen habe, obwohl das Thema nicht ganz so einfach ist, wie es sich anhört.

Die Beantwortung der Frage „Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“ ist aus mindestens zwei Gründen schwierig: Erstens sind wir uns offenkundig nicht völlig einig, was wir für unsere Gesellschaft halten. Und zweitens ist offensichtlich unklar, was sie zusammenhält. Aber die Frage finden wir wichtig. Anders lässt sich nicht erklären, warum es nicht nur diese Veranstaltungsreihe mit dieser erstaunlichen Resonanz gibt, sondern seit einer beachtlichen Zeit viele ähnliche Formate. Offenbar haben viele Menschen nicht nur ein theoretisches Interesse an der Konsistenz einer Gesellschaft, sondern ein lebenspraktisches.

Ich will zur Verdeutlichung der Schwierigkeit zur Beantwortung dieser Frage mit einer halben Wahrheit beginnen, die gar nicht von mir stammt, und will dann anschließend versuchen, ein paar Aspekte einer möglichen Antwort zu entwickeln. Das Zitat lautet wie folgt: „Die rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die sich alle einigen und dann das Ganze tragen könnten, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar.“

Der Satz stammt von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., und er stammt aus einer denkwürdigen ersten Begegnung von zwei herausragenden deutschen Intellektuellen, des damaligen Präfekten der römischen Glaubenskongregation, Ratzinger, mit Jürgen Habermas in der Katholischen Akademie in München vor etwa 15 Jahren. Das Gespräch zweier Geistesgrößen mit einem ganz unterschiedlichen Zugang zu dieser Frage gehört für mich bis heute zu den interessantesten und wichtigsten Auseinandersetzungen zu unserer Frage.

Das Gespräch hat übrigens die jeweiligen Fan-Clubs von Ratzinger wie von Habermas, in ähnlicher Weise nachhaltig irritiert, weil sie nicht für möglich gehalten hätten, was das zentrale Thema dieses Gesprächs wurde, nämlich die gemeinsame Auskunft dieser beiden Persönlichkeiten, dass „der Glaube und die Vernunft die großen Kulturen des Westens“ seien.

Glaube und Vernunft als zentrale Kulturen des Westens. Da bin ich bei meiner zweiten halben Antwort auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält: Kultur! Geld hält eine Gesellschaft offensichtlich nicht zusammen. Die Wirtschaft auch nicht. Machtmittel, einschließlich militärischer, können, wenn überhaupt, nur für eine vorübergehende Zeit den Zusammenhalt erzwingen, aber nicht wirklich begründen. Auch Politik hält bei ruhiger und nüchterner Betrachtung eine Gesellschaft nicht wirklich im Inneren zusammen.

Der Zusammenhalt einer Gesellschaft wird durch Kultur gestiftet: Kultur nicht verstanden im engeren Wortsinn von Theater, Oper, Museen und Bibliotheken, sondern Kultur verstanden als das Mindestmaß an gemeinsamen Erfahrungen, an gemeinsamen Orientierungen, an gemeinsamen Überzeugungen, die es in einer Gesellschaft gibt, die meist über Generationen wachsen und immer wieder neu vermittelt, nicht selten auch fortgeschrieben worden sind, und die in ihrer Summe die innere Konsistenz einer Gesellschaft ausmachen, ohne die auch ihre Regeln, ihre Strukturen weder zu erklären noch zu behaupten sind.

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Bemerkung für alle Gesellschaften gilt – bei aller ganz offenkundigen, zum Teil erheblichen Unterschiedlichkeit: Zusammengehalten werden sie durch die gemeinsamen Erfahrungen, durch die aus diesen Erfahrungen gewonnener Einsichten, durch die zur Begründung dieser Einsichten immer wieder vorgetragenen gemeinsamen Überzeugungen. Und nur so lange, wie es dieses Maß an Gemeinsamkeit gibt, gibt es überhaupt einen inneren Zusammenhalt. Das heißt, im Kern gilt eben auch der Umkehrschluss: Wenn dieses Mindestmaß an Gemeinsamkeit verloren geht, warum auch immer, ist es mit der inneren Konsistenz einer Gesellschaft vorbei.

Das Gefühl, dass es da ein Problem geben könnte, auch bei uns, ist vielleicht die wichtigste einzelne hinreichende Erklärung dafür, warum wir uns überhaupt mit diesem Thema beschäftigen. Und aufschlussreich ist, dass dieses Thema, wann immer es aufgerufen wird, eine besondere Intonation und Sensibilität erfährt, wenn nicht nur von der Bedeutung der Kultur in dem von mir gerade besprochenen Sinne im Allgemeinen die Rede ist, sondern damit die Vermutung, die Behauptung, vielleicht auch die Aufforderung verbunden wird, es müsse deswegen so etwas wie eine Leitkultur geben.

Dabei will ich jetzt nicht weiter ausführen, dass mich gelegentlich doch ein wenig amüsiert, wie mühelos Feuilletonisten uns „Leitmotive, Leitthemen, Leitlinien“, notfalls auch „Leitkommentare“ dringend ans Herz legen, sie aber, extrem nervös reagieren sobald die gleiche Begriffsbildung aber in Zusammenhang mit Kultur versucht wird. Ich will ein wenig sortieren, worum es eigentlich in diesem Zusammenhang geht, und vor allem, worum es nicht geht, und beginne mit einer ersten Bemerkung.

I. Leitkultur schwieriger Begriff
Es gibt Begriffe, die zur Verdeutlichung dessen, worum es geht, nur begrenzt geeignet sind, ohne die aber die notwendige Debatte gar nicht stattfände, die offensichtlich leichter zu verweigern als zu führen ist. Leitkultur ist ein solcher Begriff, der zu unmissverständlichen Beschreibung dessen, worum es geht, ganz offenkundig nicht geeignet ist, der aber als Begriff eine so elektrisierende Wirkung hat, dass er genau die Debatte herbeiführt, die ohne diesen Begriff jedenfalls sehr lange nicht geführt wurde. Mit anderen Worten: Leitkultur ist ein schwieriger Begriff für eine unbequeme, aber überfällige, unvermeidliche Debatte.

II. Keine Rangfolge der Kulturen
Jede aufgeklärte Kultur wird sich selbst nicht für die einzige, einzig mögliche, allen anderen überlegene halten. Es ist mühelos möglich, die Kulturen der Menschheitsgeschichte in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen. Die Vorstellung aber, sie in eine Rangfolge zu bringen, ist erkennbar abwegig. Leitkultur beansprucht nicht, überall in der Welt für alle zu gelten, sondern nur, aber natürlich, für die jeweils eigene Gesellschaft und ihre Mitglieder. Jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, ist insoweit eine Leitkultur.

III. Freiheit braucht Bindungen
Dass Menschen Orientierungen – welche auch immer – brauchen, weil sie Halt brauchen, wenn sie sich im Leben behaupten wollen, ist offensichtlich. Dass auch Gesellschaften Orientierungen brauchen, gemeinsame Überzeugungen, gar Verbindlichkeiten, um die Unterschiede zu ertragen, die es gibt und weder aufgegeben werden müssen noch sollen, leuchtet eigentlich ein. Es wird aber immer wieder gern bestritten, weil wir Verbindlichkeiten nicht mögen, die der Freiheit Grenzen setzen. Freiheit setzt Bindungen voraus.

IV. Verbindlichkeiten
Das vielleicht am weitesten verbreitete Missverständnis von Liberalität ist die Erwartung, dass in wirklich liberalen Gesellschaften nichts unbedingt gilt. Liberal ist aber eine Gesellschaft nur, wenn es die Einsicht gibt und auch durchgesetzt wird, dass es ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten gibt, das die Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit ist.

V. Kulturelle Begründungen
Verfassungen definieren Verbindlichkeiten, die der Staat gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen hat. Jede relevante Rechtsnorm bringt eine kulturell gewachsene und begründete Überzeugung zum Ausdruck, der sie nicht ihre Geltung, wohl aber ihre Plausibilität verdankt. Es gibt keine Rechtsnormen, die vom Himmel fallen. Diese Setzungen sind logisch betrachtet willkürliche Prioritäten, was in einer konkreten Gesellschaft erlaubt sein soll und was nicht. Und die Begründung für die Erlaubnis wie für das Verbot ist immer kulturell.

VI. Verfassungspatriotismus
Der Begriff des Verfassungspatriotismus ist der scheinbar geniale Ausweg einer selbstreferenziellen Identifikation: Die Selbstverständigung über eine Verfassung, die sich aus sich selbst versteht. Verfassungen verstehen sich aber nie aus sich selbst heraus: Sie sind kein Ersatz, sondern immer Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Sie sind Ausdruck der Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat, der Überzeugungen, die aus diesen Erfahrungen entstanden sind, der Einsichten, die sich daraus entwickelt haben, und der Verbindlichkeiten, die man genau deswegen für sich und möglichst nachfolgende Generationen nicht aufgeben möchte.

Möglicherweise gibt es keine zweite Verfassung der Welt, in der dieser kulturelle Kontext so offensichtlich ist wie im deutschen Grundgesetz. Schon in der Präambel wird dieser historische und kulturelle Zusammenhang in einer demonstrativen und zugleich unmissverständlichen Weise formuliert: „Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Das muss nicht in einer Verfassung stehen. Und gleich der erste Artikel dieser Verfassung beginnt mit einem hochideologischen Bekenntnis: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das ist ja keine empirische Tatsache, die hier beschrieben wird. Würde unsere Verfassung empirische Tatsachen festhalten wollen, müsste dieser Satz lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar. Nirgendwo ist dieser Nachweis gründlicher erbracht worden als auf deutschem Boden.“

Wir reklamieren das Gegenteil, weil es die kulturelle Orientierung ist, von der wir meinen, dass sie die Mitglieder dieser Gesellschaft verbindet und selbst diejenigen verpflichten sollte, die es nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen.

VII. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse
Der virtuelle Kanon von gemeinsamen Erfahrungen, Überzeugungen, Orientierungen, Traditionen einer Gesellschaft ist nicht ein für alle Mal fixiert, er wird ständig fortgeschrieben. Daran mitzuwirken sind alle eingeladen, die hier leben und bleiben wollen. Das, was man heute für die Leitkultur in Deutschland halten könnte, unterscheidet sich erkennbar von dem, was vor fünfzig Jahren, schon gar in der wechselhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür gehalten wurde – und wird in weiteren fünfzig Jahren wieder etwas anders aussehen als heute.

VIII. Glaube und Vernunft
Bleiben wird nach meiner Überzeugung ganz gewiss die überragende Bedeutung von Glauben und Vernunft als den „beiden Kulturen des Westens“. Genau diese Verbindung, die wechselseitige Begründung, ihre Widersprüche und die ständige Relativierung des einen durch das andere – also die Relativierung des Glaubens durch die Vernunft und der Vernunft durch den Glauben – gibt es, wenn ich das richtig sehe, so in keiner anderen Kultur. Was wiederum diese Kultur nicht besser macht als andere, aber anders.

IX. Zweifel
Zweifel sind nicht nur erlaubt, sondern unverzichtbares Merkmal der westlichen Zivilisation, die eingebaute Unruhe einer unverwüstlichen Uhr, die uns durch die Zeiten begleitet. Seit der Aufklärung steht hinter jeder Behauptung nicht mehr ein Punkt, sondern ein Fragezeichen. Auch das ist eine kulturell gewachsene Tradition unserer Zivilisation.

X. Begriff und Bedeutung
Und wie nennt man das Ganze? Muss das deshalb Leitkultur heißen? Mir fällt da immer eine kluge Bemerkung ein, die in einem anderen, aber ähnlichen Zusammenhang der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD in der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, Richard Schröder, mal gemacht hat, als es vor einiger Zeit um die hoch umstrittene Debatte ging, ob man die DDR einen Unrechtsstaat nennen dürfe. Richard Schröder hat zu dieser Debatte gesagt: „Nennt es, wie ihr wollt, aber vergesst nicht, wie es war“.

Das ist präzise auch meine Empfehlung zu dem Thema, das uns heute Abend zusammengeführt hat: Nennt es, wie ihr wollt, aber vergesst nicht, worum es geht.


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